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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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schmalen Pfad entlang. Vansen hielt sich nur ganz leicht am zerrissenen Kleid des Mädchens fest; er wollte die Arme frei haben, falls er stolperte und ins Wanken geriete. Der unbekannte Abgrund neben ihnen fühlte sich jetzt noch furchterregender an. Vansen glaubte fast zu spüren, wie der Boden der unsichtbaren Schlucht immer weiter absank, so wie der Wasserspiegel in einem lecken Eimer.
    »Da ist was!« brüllte Balk, der Schlußmann; seine Stimme schien durch einen langen Tunnel zu kommen. »Dort oben! Hinter uns!«
    Vansen packte das Kleid des Mädchens fester und drehte sich um. Einen Moment lang sah er es droben auf der Felskante nahen, ein groteskes, langgezogenes Etwas wie eine Vogelscheuche auf vier Beinen, aber zerlumpter und unbegreiflicher; dann richtete sich das Ding zu einer unglaublichen Höhe auf und ruderte mit stelzenartigen Beinen durch die Luft, ehe der Nebel es wieder verschluckte.
    Sein Herz hämmerte. »Perin bewahre uns! Schneller, Mädchen!«
    Sie tat ihr Bestes, aber der Pfad war schmal und tückisch. Die Männer hinter ihm fluchten oder schluchzten sogar. Vansens Fuß glitt auf losen Steinchen aus.
    Jetzt hörte er das Ding genau über ihnen, ein Klicken und Kratzen wie von den gepanzerten Beinen eines Krebses, die über den nassen Stein zwischen Gezeitentümpeln schleifen. Der Nebel war noch dichter geworden. Willow erklomm jetzt ein steiles Stück; er konnte sie kaum noch sehen, obwohl er sich immer noch an ihren Rocksaum klammerte. Ein Steinhagel ging zwischen ihnen nieder, und als er aufblickte, sah er eine undeutliche, dunkle Form aus dem Nebelvorhang ragen. Wenn das der Kopf des Ungeheuers war, war er so mißgestaltet wie der Knorren eines verdrehten Baums. Einen Moment lang hörte er es atmen, ein tiefes, rauhes Pfeifen, während sich ein scharrendes Bein die Felswand hinabtastete. Vansen ließ Willows Kleid los, um sein Schwert zu ziehen, aber das gezackte Bein hielt plötzlich inne. Das Ding war noch zu weit über ihnen. Es zog sich in den Nebel zurück.
    »Los — auf sicheren Boden, so schnell du kannst!« befahl er dem Mädchen und drehte sich dann zu den anderen um. »Loslassen und die Schwerter ziehen, aber paßt auf, daß ihr nicht getrennt werdet! Davis, habt Ihr noch Pfeile?« Er hörte den jungen Soldaten etwas hervorstoßen, das er nicht richtig verstehen konnte. »Versucht, zum Schuß zu kommen, wenn Ihr es klar genug seht.«
    Vansen stolperte hinter dem Mädchen her, bemühte sich zum Berg hinzulehnen, obwohl ihm all seine Sinne zuschrien, sich vom Fels wegzulehnen, weg von den Greifarmen des Ungeheuers, das gleich dort oben lauerte. Die Männer hinter ihm waren jetzt ein desorganisierter Haufen, aber er wußte nicht, was er sonst tun sollte: Ihnen zu befehlen, sich aneinander festzuklammern und gleichzeitig die Waffen bereitzuhalten, hieße, das Unheil herausfordern. Sie mußten irgendwie auf sicheren Boden kommen, wo Davis' Bogen und ihre Schwerter sie vielleicht retten könnten.
    Er stolperte, trat auf lose Erde, ruderte mit den Armen, um nicht ins Unsichtbare hinauszukippen. Als er wieder Tritt fand, kam von hinter ihm wieder ein Scharren, dann ein seltsames Knarren wie von Holz und plötzlich der gellende Schrei eines seiner Männer — ein so animalischer Angstschrei, daß er nicht einmal sagen konnte, von wem er kam. Er drehte sich um, das Schwert erhoben, und sah, daß das riesige Ding sich aus dem Nebel herabgelassen hatte wie eine Spinne an ihrem Faden. Die Männer schrien und hackten auf das Ding ein. Auch in dem Moment, da es mitten unter ihnen war, hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit irgend etwas, das er kannte — spindeldürre Arme, so lang wie Baumäste, hängende Haut- oder Fellappen wie versengtes Pergament. Es war der blanke Irrsinn, eine Obszönität. Ganz kurz sah er in dem Chaos ein klaffendes Mundloch und ein einzelnes leeres schwarzes Auge, dann krabbelte das Ding rückwärts die Felswand hinauf, ein um sich tretendes, schreiendes Bündel in den einwärts klappenden Armen. Neben ihm fluchte und weinte Davis, als er einen einzigen Pfeil auf das Ding abschoß, das gleich darauf wieder im Nebel verschwand.
    Es hatte sich Collum Saddler geholt.
     
    Sie stolperten schweigend dahin. Verzweiflung schnürte Vansen die Kehle zu. Das Ding hatte sich geholt, was es wollte, und sie sahen es nicht wieder, aber es war, als hätte es ihnen mit ihrem Kameraden auch ihre Herzen entrissen. Vansen hatte Collum Saddler gekannt, seit er nach Südmark gekommen war.

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