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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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geträumt. Ich glaube, ich muß wohl auch geschlafwandelt sein — das war vielleicht das erste Mal — ich bin nämlich vor der Tür zu seinen Gemächern aufgewacht und hatte schreckliche Angst und wollte, daß er ... daß er mir sagt, daß alles wieder gut wird. Ich bin reingegangen, aber er war nicht da, obwohl alle seine Diener da waren und schliefen. Ich wußte, er mußte in seiner Bibliothek sein. Also bin ich durch die Hintertür der Kapelle aus dem Palast geschlüpft, damit die Wachen mich nicht erwischten. Es war kurz vor Mittsommer, glaube ich — ich weiß nur noch, daß es warm war und daß es so ein komisches Gefühl war, mitten in der Nacht draußen im Burghof zu sein, im Nachthemd und barfuß. Ich hatte das Gefühl, ich könnte überall hingehen — einfach immer weitergehen, wohin ich wollte, sogar in ein anderes Land, als ob der Mond immer weiter scheinen würde, solange ich unterwegs wäre, und wenn ich aufwachte, wäre ich ein anderer Mensch.« Er schüttelte den Kopf. »Es war Vollmond, ein riesiger Vollmond. Das weiß ich auch noch.«
    »Wann war das?«
    »In dem Jahr, in dem ein Teil des Daches vom Wolfszahnturm herunterkam. Im selben Jahr, in dem die Köchin mit den dürren Armen starb und wir das ganze Frühjahr nicht in die Küche durften.«
    »Vor zehn Jahren. Du meinst das Jahr, in dem ... in dem das mit deinem Arm passiert ist?«
    Er nickte langsam. Sie merkte, daß er irgend etwas abwog, eine Entscheidung traf. Sie versuchte, still dazusitzen, aber ihr Herz pochte, und ihr war plötzlich so bang.
    »Die Tür unten im Turm war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte noch drinnen und war nicht ganz herumgedreht. Als ich ein bißchen an der Klinke rüttelte, sprang das Schloß auf, und ich bin die Treppe hinaufgestiegen, bis zur Bibliothek. Es waren keine Wachen im Turm, da war überhaupt niemand. In dem Moment fand ich das nicht weiter seltsam — die ganze Nacht schien mir wie ein Traum, nicht nur das mit den Wachen —, aber ich hätte mich fragen sollen, warum er sie weggeschickt hatte oder ihnen heimlich entschlüpft war, nur um allein zu sein. Ich hätte mich allerdings nicht lange zu fragen brauchen. Als ich an der Tür war, habe ich ... habe ich ihn gehört.«
    »Hat er geweint?«
    Es dauerte einen Moment, bis Barrick antwortete. »Geweint, ja, das auch. Er machte alle möglichen Geräusche, obwohl sie kaum durch die Tür drangen. Es klang fast wie Lachen. Und Reden. Zuerst dachte ich, er würde sich mit jemandem streiten. Dann dachte ich, er wäre vielleicht eingeschlafen und hätte einen Albtraum, so wie der, der mich geweckt hatte. Also habe ich angeklopft. Zuerst nur leise, aber die Geräusche drinnen gingen einfach weiter. Also habe ich mit den Fäusten gegen die Tür gebummert und geschrien, ›Vater, wach auf!‹. Da hat er die Tür aufgemacht.« Barrick schien weiterreden zu wollen, aber dann bebten seine Schultern, und er holte zittrig Luft. Er schluchzte.
    »Barrick, was ist? Was ist passiert?« Sie kletterte aufs Bett und nahm ihn in die Arme. Seine Muskeln waren so hart gespannt wie die Umwickelung eines Messergriffs, und er zitterte, als hätte ihn das Fieber wieder voll erfaßt. »Bist du krank?«
    »Nicht ...! Nicht reden! Ich will ...« Er holte noch einmal zittrig Luft. »Er hat die Tür aufgemacht. Vater hat aufgemacht. Er ... er hat mich nicht erkannt. Glaube ich jedenfalls. Seine Augen ...! Briony, seine Augen waren so wild, wild wie Tieraugen! Und er hatte kein Hemd an, und auf seinem Bauch waren lauter Kratzer — blutige Kratzer. Er blutete. Er warf einen Blick auf mich, packte mich dann und zog mich in die Bibliothek. Er redete unsinniges Zeug — ich konnte kein Wort verstehen — und zerrte an mir und knurrte mich an. Wie ein Tier! Ich dachte, er wollte mich umbringen. Das denke ich immer noch.«
    »Barmherzige Zoria!« Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Die Welt stand kopf. Sie fühlte sich, als ob Schneeflocke sie abgeworfen hätte und sie so hart auf dem Boden aufgeschlagen wäre, daß alle Luft aus ihrer Lunge entwichen war. »Bist du ... könnte es sein, daß du das nur geträumt hast ... ?«
    Sein Gesicht war schmerz- und wutverzerrt. »Geträumt? Das war die Nacht, der ich meinen verkrüppelten Arm verdanke. Meinst du, das habe ich nur geträumt?«
    »Wie meinst du das? Oh, bei allen Göttern, da ist es passiert?«
    »Ich habe mich losgerissen. Er rannte hinter mir her. Ich habe versucht, zur Tür zu kommen, aber ich bin immer wieder über

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