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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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geschworen, nicht über das zu reden, was in jenem Raum geschehen war. Ich schämte mich, für mich und für ihn. Und zunächst, ehe ich verstand, was wirklich geschehen war, war ich tief in meiner Ehre gekränkt, weil ich wie ein Verbrecher behandelt wurde, nur weil ich eine Meinungsverschiedenheit mit dem Prinzregenten gehabt hatte. Doch als ich dann erfuhr, was passiert war, habe ich Euch gesagt, ich hätte ihn nicht getötet, und das war die Wahrheit.«
    Er zitterte ein wenig unter ihrer Hand, die immer noch auf seinem Arm lag. »Was bleibt einem Mann noch, wenn er seine Ehre verliert, indem er sein Wort bricht? Hätte Hendon Tolly Euch nicht gesagt, was Euer Bruder vorhatte, würde ich immer noch schweigen.«
    Briony lehnte sich zurück und blickte zur trutzigen Silhouette der Burg empor. Sie war durchgefroren und müde, noch immer unter Schock von den Ereignissen der Nacht. Irgendwo dort in der dunklen Burg, das wußte sie, suchten Bewaffnete nach Shaso und ihr. »Wohin gehen wir jetzt?«
    »Nach Süden«, sagte er schließlich. Es klang, als wäre er zwischendurch eingenickt.
    »Aber dann? Wenn wir wieder an Land sind? Denkt Ihr an irgendwelche Verbündeten?« Nach Süden, dachte sie.
Dorthin, wo Vater gefangengehalten wird.
»Mein Bruder«, sagte sie laut. »Ich ... ich habe Angst um ihn, Shaso.«
    »Was auch passiert ist, er hat das getan, was er für das Beste hielt. Seine Seele hat Frieden, Briony.«
    Einen Moment lang schlug ihr das Herz im Hals. Barrick? Wußte Shaso etwas über ihn, was sie nicht wußte? Dann begriff sie.
    »Ich meinte nicht Kendrick. Ja, er hat sein Bestes getan, mögen die Götter ihn segnen und für immer bei sich aufnehmen. Nein, ich meine Barrick.« Es war schwer, auch nur die Kraft zum Reden zu finden: Der lange Tag forderte jetzt seinen Zoll. Tränen ließen die dunklen Formen der Burg verschwimmen. »Er fehlt mir. Ich habe ... ich habe Angst, daß etwas Schlimmes passiert ist.«
    Shaso hatte darauf nichts zu sagen.
    Das Boot glitt weiter, von Enas geübten Armen ruhig und stetig gerudert. Briony fühlte sich wie Zoria in jener berühmten Geschichte, in der sie mitten in der Nacht fliehen mußte. Wie hatte Kettelsmit es in Worte gefaßt — oder wohl eher in Worte gezwängt?
Den klaren Blick, das löwenmut'ge Herz sie kehrt dem Tage zu, da man sie wieder ehrt
... Aber die Göttin Zoria war vor einem Feind geflohen, zurück ins Haus ihres Vaters. Briony hingegen verließ ihr Vaterhaus, vielleicht für immer. Und Zoria war eine Unsterbliche.
    Der Midlanfels mit seinen Mauern und Türmen dräute jetzt nicht mehr über ihr wie ein strenger Riese, sondern glitt allmählich davon. Der Wasserstreifen zwischen ihrem kleinen Boot und der Festung wurde immer breiter, und die bewaldete Küste kam näher, ein Streifen von Schwarz, das das Funkeln der Sterne auslöschte. In dem Teil der Burg, den sie sehen konnte, brannten nur wenige Lichter, ein paar im Frühlingsturm, hie und da eine Laterne in einem der Wachhäuser entlang der Mauer und auf den Hafenmolen. Plötzlich überkam sie eine schmerzliche Liebe zu diesem Ort. All die Dinge, die sie für selbstverständlich gehalten, ja zum Teil sogar verachtet hatte, die zugigen, uralten Hallen und Gänge, die so verzweigt und verschachtelt waren wie eine lange Geschichte, die düsteren Ahnenbilder, die grauen Bäume im Privatgarten unter ihrem Fenster, die in jedem kalten Frühjahr so tapfer knospten — das alles war ihr geraubt worden. Sie wollte es wiederhaben.
    Shaso schlief jetzt, aber Briony hatte den Moment verpaßt, von der heilenden Kraft des Schlafes zu profitieren. Für den Augenblick zumindest war sie überwach, erschöpft, aber voller düsterer Gedanken. Sie konnte nur dasitzen und zuschauen, wie der Mond immer weiter herabglitt und die Wasser zwischen ihr und ihrem bisherigen Leben immer breiter wurden.

    Die Straßen der Funderlingsstadt waren beleuchtet, aber völlig leer, so daß sie eher wie unfertige Stollen denn wie große Hauptstraßen wirkten. Chert, der sich wie jemand bewegte, der in letzter Zeit zu viele seltsame Winkel der Welt gesehen hatte, hörte seine Schritte von den Steinwänden der Nachbarhäuser widerhallen, als er sich die Keilstraße entlangschleppte und schließlich durch seine eigene Haustür trat.
    Opalia hörte ihn im Hauptraum und kam aus dem hinteren Teil des Hauses angelaufen, das Gesicht von Schmerz und Angst gezeichnet. Chert dachte, sie würde ihn zur Rede stellen, wo er all die langen Stunden gewesen

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