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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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gewesen, aber der Besuch eines lebenden Autarchen war ihm nie vergönnt gewesen. Qinnitan war erst seit einem guten Jahr Novizin. Das schien schon fast ungerecht.
    Der jetzige Autarch, Sulepis, war noch ein ziemlich junger Gott auf Erden. Er saß erst seit kurzem auf dem Falkenthron. Qinnitan erinnerte sich noch, wie sein Vater, der alte Autarch Parnad, gerade um die Zeit ihres Eintritts in den Tempeldienst gestorben war (was den gewaltsamen Tod einiger seiner Söhne, die Sulepis den Thron hätten streitig machen können, nach sich gezogen hatte). Sie erinnerte sich an die tiefe Trauerstille, die damals über dem Tempel gelegen hatte, so daß sie erst später überrascht festgestellt hatte, daß das nicht der Normalzustand war. Vielleicht erklärte ja die Jugend des jetzigen Autarchen, daß er so verblüffende Dinge tat, wie ein verräuchertes Bienenhaus in einem entlegenen Winkel des riesigen, uralten Nushash-Tempels zu besuchen.
    »Meinst du, er sieht gut aus?« flüsterte Duny, hörbar schockiert und erregt von ihren eigenen gewagten Gedanken. Sulepis hatte die ersten Monate seiner Regentschaft damit verbracht, ein paar Randprovinzen zu züchtigen, die fälschlich und zu ihrem prompten Bedauern angenommen hatten, der junge Autarch würde sich als zaghaft erweisen. Deshalb hatte er keine Zeit für jene Prunkumzüge und zeremoniellen Auftritte gehabt, die den Leuten das Gefühl gaben, ihren Herrscher zu kennen. Qinnitan schüttelte nur achselzuckend den Kopf. Sie konnte nicht
so
an den Autarchen denken, schon der Versuch machte ihr Kopfschmerzen. Das war, als wollte ein Wurm darüber befinden, ob ein Berg die richtige Farbe hatte. Aber ärgerlich war sie nicht: Sie wußte, ihre Freundin hatte Angst, und wer hatte keine? Schließlich würden sie dem Lebenden Gott begegnen, einem Wesen, das so weit über ihnen stand wie die Sterne und ihrer aller Leben leichter auslöschen konnte als Qinnitan das einer Fliege.
    Für einen kurzen Moment — er war immer zu kurz — gelangten die Novizinnen aus dem engen Gang auf die von hohen Fenstern durchbrochene Verbindungsgalerie zwischen den Wohngebäuden und dem Tempelkomplex. Zwölf bis fünfzehn Schritte höchstens, je nachdem, wie zügig das vorderste Mädchen ging, aber es war Qinnitans einzige Chance, auf das prächtige Große Xis hinabzuschauen, diese Stadt, in der sie einst, wenn auch nicht in völliger Freiheit, so doch mitten im Straßentreiben gelebt hatte, unter Menschen, die in normaler Lautstärke sprachen. Im Bienentempel sprach kaum je jemand lauter als im Flüsterton — obwohl das Geflüster manchmal genauso aufdringlich sein konnte wie lautes Geschrei.
    »Meinst du, er wird etwas sagen? Was glaubst du, wie seine Stimme klingt?«
    »Still, Duny.«
    Qinnitan blieben nur wenige Augenblicke, um die Welt dort draußen zu genießen, wenn sie sie auch nur von weitem sehen konnte. Sie vermißte diese Welt so sehr. Sie riß die Augen ganz weit auf, versuchte, in sich aufzusaugen, was sie nur konnte, den blauen Himmel, den der Rauch von einer Million Feuern fahlgrau verschleierte, die perlweißen Dächer, die sich bis ans Ende ihres Gesichtsfelds erstreckten wie ein endloser, mit viereckigen Steinen übersäter Strand, eine weite Fläche, aus der da und dort die hohen Türme der bedeutendsten Familien aufragten. Mit ihren farbigen Querstreifen und goldenen Ornamenten wirkten die Türme wie Ärmel von Prunkgewändern, als wäre jeder eine gen Himmel gereckte Faust. Aber natürlich hatten die reichen Männer der Turmfamilien keinen Grund, dem Himmel zu grollen: Statt zu Fäusten geballt hätten ihre Turmhände eigentlich weit geöffnet sein müssen, für den Fall, daß die Götter beschlossen, noch mehr Gutes auf die herabregnen zu lassen, die ohnehin schon damit übersättigt waren.
    Qinnitan fragte sich oft, was wohl passiert wäre, wenn sie aus einer der einflußreichen Familien käme, statt nur aus einer Sippe von mittleren Händlern, wenn ihr Vater Grundbesitzer wäre, statt nur einen Posten in der Verwaltung eines der größeren Nushash-Tempel auszufüllen. Allerdings hätte sie es wohl auch schlimmer treffen können — er hätte auch Lakei eines jener anderen Götter sein können, die gegenüber dem Feuergott rasch an Macht verloren. »So ein Glück, daß wir dich dort unterbringen«, hatten ihr ihre Eltern erklärt, als sie als Novizin bei den Schwestern vom Bienentempel aufgenommen worden war, obwohl sie selbst — auch wenn das noch so gotteslästerlich sein

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