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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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wäre das für sie eher ein aufregender als ein beängstigender Gedanke gewesen, aber jetzt war es nur ein Zeichen des finsteren Schicksals, das über ihr schwebte wie die Axt des Scharfrichters.
    Hat Kendrick sich schon entschieden?
    Er hatte nichts von seinen Gedanken preisgegeben, als sie ihn am Abend in seinen Gemächern aufgesucht hatte. Sie hatte geweint, worüber sie sich jetzt ärgerte. Und sie hatte ihn angefleht, sie nicht mit Ludis zu verheiraten, sich dann aber für ihre Selbstsucht entschuldigt.
Er muß doch wissen, daß ich mir Vater so sehnlich zurückwünsche wie jeder hier.
    Kendrick war die ganze Zeit distanziert gewesen, hatte dann aber beim Abschied ihre Hand genommen und ihr einen Kuß auf die Wange gegeben, was er kaum je tat. Tatsächlich erschreckte sie dieser Wangenkuß mehr als Kendricks Verschlossenheit. Sie war sich sicher, daß es ein Abschiedskuß gewesen war.
    Schmerz stumpft ab. Beständige Angst verwandelt sich in Taubheit. Brionys Gedanken begannen zu schweifen, und sie stellte sich vor, was alles an Gutem und Schlechtem passieren konnte. Ihrem Vater könnte irgendwie die Flucht glücken, und dann hätte Ludis kein Druckmittel gegen die Eddons mehr. Oder es könnte sich herausstellen, daß der Lordprotektor nur übel verleumdet wurde, daß er in Wahrheit ein gutaussehender und gütiger Mann war. Oder aber es könnte sich erweisen, daß er noch schlimmer war als sein Ruf, und dann bliebe ihr keine andere Wahl, als ihn im Schlaf zu töten und sich anschließend selbst umzubringen. Sie lebte in dieser einen Stunde so viele verschiedene Leben, schreckliche wie phantastische, daß sie schließlich unmerklich in einen echten Traum hinüberglitt — einen schöneren diesmal, in dem sie und Barrick mit Kendrick Verstecken spielten, alle drei wieder unbeschwerte Kinder — und die Mitternachtsglocke verschlief, nicht aber den Schrei, der kurz darauf durch den Palast gellte.
    Briony saß senkrecht im Bett, beinah sicher, daß es nur Einbildung gewesen war. Ganz in ihrer Nähe wälzte sich die junge Rose im Schlaf, in ihrem eigenen Albtraum gefangen.
    »Der schwarze Mann ...!
« stöhnte das Mädchen.
    Briony hörte es wieder — Entsetzensschreie, die immer lauter wurden. Moina war jetzt auch wach. Etwas bummerte laut gegen die Tür ihres Gemachs, und Briony fiel vor Schreck fast aus dem Bett.
    »Der Autarch!« schrie Moina und griff an das Amulett, das sie um den Hals trug. »Er ist da und wird uns alle in unseren Betten abschlachten ...!«
    »Es ist nur einer der Wächter«, fuhr Briony das Mädchen aus Helmingsee an, um es sich selbst einzureden. »Geh und mach auf.«
    »Nein, Prinzessin! Sie werden uns vergewaltigen!«
    Briony zog ihren Dolch unter der Matratze hervor, wickelte sich dann in die Decke, stolperte zur Tür und fragte mit hämmerndem Herzen, wer da sei. Es war keiner der Wächter, sondern eine viel vertrautere Stimme. Als die Tür aufging, flatterte ihre Großtante Merolanna herein und rief: »Die Götter mögen uns schützen! Die Götter mögen uns schützen!« Ihr Nachthemd war verrutscht, und das lange graue Haar fiel ihr auf die Schultern.
    »Warum schreien alle so?« fragte Briony und kämpfte gegen die wachsende Furcht an. »Brennt es?«
    Merolanna kam taumelnd zum Stehen. Sie keuchte und blinzelte kurzsichtig. Ihre Wangen waren tränennaß. »Briony, bist du's? Oh, den Göttern sei Dank, ich dachte, sie hätten euch alle getötet.«
    Die Worte der alten Frau schossen durch ihre Adern wie Eiswasser. »Uns alle? ... Wovon sprichst du?«
    »Dein Bruder — dein armer Bruder ...«
    Vor Eiseskälte drohte ihr Herz stehenzubleiben. Sie rief »Barrick!« und schob sich an Merolanna vorbei.
    Draußen waren keine Wachen, aber den Gang erfüllten Geräusche, Wehklagen und fernes Rufen, und als sie in die hohe Tributhalle kam, irrten dort lauter Menschen im Beinahe-Dunkeln herum, fragten aufgeregt durcheinander oder murmelten Verwünschungen. Ein paar hatten Laternen oder Lampen dabei, und alle waren im Nachtgewand. Die riesige Halle — schon bei Tag seltsam genug mit all den bizarren Statuen und sonstigen Gegenständen aus fernen Ländern wie etwa dem mit mächtigen Zähnen bewehrten Oliphantenkopf, der überm Kamin hing und es an Häßlichkeit mit jedem Dämon aus dem Buch des Trigon aufnehmen konnte — schien jetzt außerdem noch von hellen Gespenstern bevölkert. Steffans Nynor, mit einer lächerlichen Schlafmütze und einem komischen kleinen Beutel um den Bart, stand in der

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