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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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durch die Nacht hinter den dunklen Bergen, damit er am Morgen das Licht des Feuers wiederbringen und der Erde und allem, was darauf war, neues Leben bescheren konnte.
    Irgendwo hinter diesem Torbogen erhob sich die mächtige goldene Statue des Nushash selbst, lagen all die endlosen Gänge und Kammern seines riesigen Tempels, die Kapellen, die Wohnquartiere der Priester und die Lagerräume für die Opfergaben, deren Zahl so groß war, daß ein beträchtlicher Teil seines Priesterheeres keine andere Aufgabe hatte, als sie in Empfang zu nehmen und zu katalogisieren. Hinter diesem Torbogen lag der irdische Herrschersitz des Feuergottes, der mit dem Palast des Autarchen die Achse der gesamten Welt bildete. Aber in diesen Teil des Tempels durften Mädchen wie Qinnitan natürlich nicht, dort hatten überhaupt keine Frauen Zutritt, nicht einmal die Hauptfrau des Autarchen oder seine hochverehrte Mutter.
    Die Prozession der Novizinnen zog jetzt nach links durch die kleinere Vorhalle, eilte auf leisen, bloßen Füßen zum Tempel des Stocks der Heiligen Bienen Nushahs, wie er mit vollem Namen hieß. Wenn die jüngsten Bienentempel-Schwestern nicht schon seit Wochen diesem Tag entgegengefiebert hätten, wäre dies der Moment gewesen, in dem sie gemerkt hätten, daß heute kein Tag wie jeder andere war: Die Hohepriesterin selbst erwartete sie, zusammen mit der Obernovizin. Obgleich Hohepriesterin Rugan nicht ganz so verehrt wurde wie die Orakelpriesterin Mudry, war sie doch die Herrin des Bienenstocktempels und damit eine der mächtigsten Frauen in Xis. Dennoch war sie eine bemerkenswert normale, ja sogar nette Frau, wenn sie auch alberne Kindereien überhaupt nicht leiden konnte.
    Hohepriesterin Rugan klatschte in die Hände, und die Mädchen verstummten und scharten sich im Halbkreis um sie. »Ihr wißt alle, was heute für ein Tag ist«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, »und wer hierher kommt.« Sie berührte ihr Zeremonialgewand und ihre Haube, wie um sich zu vergewissern, daß sie beides angelegt hatte. »Ich brauche euch nicht zu sagen, daß der Tempel makellos sauber sein muß.«
    Qinnitan unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatten die ganze Woche geputzt — wie konnte der Tempel da noch sauberer werden?
    Rugans Gesicht war angemessen streng. »Bei der Arbeit werdet ihr danksagen. Ihr werdet Nushash und unseren großen Autarchen für diese Ehre preisen. Ihr werdet darüber nachsinnen, welch ungeheure Bedeutung dieser Besuch für unser aller Leben hat. Vor allem aber werdet ihr, während ihr arbeitet, über die Heiligen Bienen und ihr unablässiges, klagloses Schaffen nachdenken.«
    »Sie sind so schön«, sagte die Obernovizin.
    Qinnitan unterbrach ihre Arbeit für einen Moment und betrachtete die Bienenstöcke hinter den Schleiern aus rauchgrauen Seidennetzen: riesige Zylinder aus gebranntem Ton, verziert mit Reifen aus Kupfer und Gold. Um sie zu wärmen, wurden im Winter Töpfe mit heißem Wasser unter den mächtigen Zeremonialständern aufgestellt — eine der unangenehmsten Aufgaben der Novizinnen: Qinnitan hatte etliche Verbrühungen an Händen und Handgelenken davongetragen. Die Behausungen der Bienen des Feuergottes waren von einer Pracht, mit der nur die Häuser der erhabensten und reichsten Menschen mithalten konnten. Als ob sie das wüßten, sangen die Bienen leise und zufrieden vor sich hin, ein Summen, das einen in den Ohren kitzelte und einem die Nackenhärchen prickeln ließ. »Ja, Obernovizin Chryssa«, sagte Qinnitan, und es war ehrlich gemeint. Das war es wohl, was ihr am Bienenstocktempel am besten gefiel — die Stöcke selbst, die fleißigen, heiteren Bienen. »Das sind sie.«
    »Heute ist ein großer Tag für uns.« Die Obernovizin war selbst noch eine junge Frau, auf schmalgesichtige Weise hübsch, wenn man erst einmal gelernt hatte, die Narbe zu übersehen, die sich von ihrem einen Auge über die Wange zog. Wegen dieser Narbe und noch anderer Dinge wurde im Novizinnenhaus viel über sie spekuliert und gekichert. Qinnitan hatte nie den Mut gehabt, sie zu fragen, wie sie zu der Narbe gekommen war. »Ein großer und wunderbarer Tag. Aber irgendwie scheinst du nicht recht glücklich, Kind.«
    Qinnitan schnappte nach Luft, erschrocken, daß man ihr diese seltsame Stimmung ansah. »Oh, nein, Herrin. Es ist ein großes Glück für mich, hier zu sein, als eine Schwester vom Bienentempel.«
    Die Obernovizin sah nicht so aus, als ob sie ihr wirklich glaubte, nickte aber zustimmend. »Da hast du recht. Es gibt

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