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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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mochte — gebetet hatte, daß es nicht passieren würde. »Viel reichere Familien als wir würden für eine solche Ehre Blut vergießen. Du wirst im Tempel des Autarchen selbst dienen!«
    Der Tempel hatte sich allerdings als ein riesiger Komplex von miteinander verbundenen Gebäuden entpuppt, kaum kleiner als das Große Xis selbst, und Qinnitan als eine von so vielen hundert Bienentempel-Novizinnen, daß vermutlich nicht einmal die Schwester, die für ihr Wohngebäude zuständig war, mehr als ein paar Namen kannte.
    »Ich weiß nicht, was ich mache, wenn er mich anguckt. Wenn ich in Ohnmacht falle, meinst du, dann läßt er mich töten?«
    »Bitte, Duny. Nein, ich bin sicher, daß dauernd Leute vor ihm in Ohnmacht fallen. Schließlich ist er ein Gott.«
    »Du sagst das so komisch. Ist dir nicht gut?«
    Schon war es wieder vorbei mit dem Blick auf die Freiheit: die mächtige Stadt verschwand, als sie aus der Galerie in den nächsten Gang traten. Eine ihrer Tanten hatte Qinnitan erzählt, Xis sei so groß, daß ein Vogel sein ganzes Leben damit zubringen könne, vom einen Ende zum anderen zu fliegen und sich zwischendurch ab und zu niederzulassen, um zu schlafen, zu fressen und vielleicht auch eine Familie zu gründen. Qinnitan war sich nicht sicher, ob das stimmte — ihr Vater hatte verächtlich geschnaubt —, aber fest stand, daß es da draußen eine Welt gab, die so viel größer war als ihr begrenzter Lebensraum, so viel weiter als ihr täglicher Marsch vom Wohngebäude in den Tempel und abends wieder zurück, daß sie sich sehnlich wünschte, ein Vogel zu sein und sich über eine Stadt hinwegzuschwingen, die niemals endete.
    Selbst Dunys aufgeregtes Geplapper verstummte schließlich, als sie die gewaltige Säulenhalle betraten, wie immer eingeschüchtert von den mächtigen, wie Zedern geformten Steinsäulen, die sie mindestens um das Dutzendfache ihrer eigenen Größe überragten, sich immer höher und höher emporreckten, bis sie in den tintigen Schatten unter der Decke verschwanden. Als Qinnitan in den Tempel gekommen war, hatte sie es zunächst merkwürdig gefunden, daß ausgerechnet der Feuergott an einem so dunklen Ort leben sollte, aber nach einer Weile hatte es ihr eingeleuchtet. Feuer war nie so hell, wie wenn es aus der Schwärze aufflammte, nie so wichtig, wie wenn es das einzige Licht an einem sonnenlosen Ort war.
    Am Ende der mächtigen Halle öffneten sich jetzt Nushahs Augen: Der älteste Priester des Tempels entzündete die großen Laternen, wobei er sich langsamer bewegte, als man es bei einem lebenden Menschen für möglich gehalten hätte. Er hob die lange Anzündstange im Schleichtempo eines Insekts, das fürchtet, von einem hungrigen Vogel beobachtet zu werden. Der Priester war einer der ganz wenigen Männer, die Qinnitan und ihre Mitnovizinnen bei der Erfüllung ihrer täglichen Pflichten zu Gesicht bekamen. Obwohl er ein Begünstigter war und daher zwingendere Umstände als nur das schlichte Alter gewährleisteten, daß er keine Gefahr für eine große Ansammlung von Jungfrauen darstellte, dachte Qinnitan doch, daß ihn die Schwestern vom Bienentempel sicher deshalb ausgesucht hatten, weil er seiner Jahre wegen doppelte Sicherheit bot. Nach Geschick und Wendigkeit war es jedenfalls bestimmt nicht gegangen. Er war offenbar schon seit Stunden bei seinem quälend langsamen Tun: Über die Hälfte der Laternen brannten bereits. Ihr Flackerlicht erhellte die schwungvollen Linien der heiligen Inschrift an der Wand dahinter. Die goldenen Schriftzeichen der Hymne an den Feuergott glommen rot im Flammenschein:
Von dir, o Großer, kommt alles Gute,
Mächtiger Nushash,

O Glutäugiger, Sockel des himmlischen Herds.
Wir selbst kommen aus dir und leben wie Rauch in der Luft
Nur kurze Zeit, aus deiner Wärme hervorgegangen,
Aber wir überleben ewig in den Tiefen der Flamme
Deines unsterblichen Herzens ... .
    Hinter dem mächtigen, reich verzierten Torbogen lag das labyrinthische innerste Heiligtum Nushashs, des obersten Gottes der Welt und Herrn des Feuers, dessen Wagen die Sonne war — ein Wagen, noch größer als der irdische Palast des Autarchen, hatte Qinnitans Vater erklärt, mit Rädern, höher als selbst der höchste Turm. (Cheshret, ihr Vater, war ungemein stolz auf seinen obersten Dienstherrn.) Der mächtige Nushash fuhr jeden Tag in seinem gewaltigen Wagen über den Himmel und dann, trotz aller Fallen, die ihm Argan der Dunkle stellte, trotz aller Ungeheuer, die an seinem Weg lauerten, weiter

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