Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
aus führt der Weg wie in einem Krankenhaus einen langen weißen Gang entlang. Zu beiden Seiten befinden sich Räume und überall stinkt es nach Toilettenreiniger.
Der Raum, in den man mich bringt, ist kahl, blitzsauber und fast leer bis auf einen Schreibtisch, vor dem ein Plastikstuhl steht, und ein Waschbecken in der Ecke. Hinter dem Tisch hängt ein Bild von Selwyn Stone an der Wand.
Ein Bild, das ich schon viele Male angestarrt habe. Sein Gesicht ist grau und kantig wie die Klippen draußen, und seinen Augen scheint nichts verborgen zu bleiben, sie sehen direkt in mich hinein.
Ich blicke weg.
Das, was einem als Erstes in den Arztzimmern auffällt, nachdem die Lifttüren sich mit einem Piepston wieder geschlossen und die Aufseher die Lichter hinter sich ausgemacht haben, ist die fast völlige Stille. Weder Geschrei noch Rufen dringt vom Hof herein, nur hin und wieder hört man das Quietsch-Quietsch von Gummisohlen draußen im Korridor.
Natürlich weiß ich, dass ich ganz allein auf einem Plastikstuhl vor einem Schreibtisch sitze, aber in der Stille hört man eben manchmal Sachen. Das Geräusch von etwas, das sich an der Decke bewegt, oder ein Luftzug, der womöglich ein Atemzug sein könnte. Plötzlich sehe ich aus dem Augenwinkel einen Schatten über den Fußboden huschen – einen Schatten mit acht Beinen. Schon wieder ein Ungeziefer.
Eine haarige schwarze Spinne flitzt über den Boden.
Ich hasse Spinnen. Wie sie ausgerechnet in den sterilsten Raum des ganzen Gebäudes kommen konnte, ist mir schleierhaft. Ich rühre mich nicht vom Fleck, zähle bis zehn und hoffe, dass sie nicht bis zu mir krabbelt. Wenn ich hier endlich raus bin, werde ich Pa von den Arztzimmern erzählen. Dass man die Leute allein dort sitzen lässt, im Dunkeln, stundenlang, nur um sie zu schikanieren. Denn man kann ja wohl schlecht zugeben, dass man sich in der Dunkelheit fürchtet, das tun nur Memmen, aber genau das bin ich. Wenn Pa Bescheid wüsste, würde er es nie zulassen, da bin ich mir sicher.
Es goss in Strömen in jener Nacht, der Regen klatschte heftig gegen die Fenster. Es war schon spät, aber nicht völlig dunkel, weil der Mond schien. Ein merkwürdiges Geräusch im Erdgeschoss ließ mich aus dem Schlaf schrecken. Ich weiß noch genau, welche seltsamen Verrenkungen die Kuscheltiere auf dem Regal zu machen schienen, weil der peitschende Regen von draußen Schatten auf sie warf, bis ich das Licht anmachte, um die Dunkelheit zu verjagen.
Die unordentlich in einem Haufen auf dem Fußboden liegenden Kleider, die Spielsachen im Regal – für einen Moment sah alles in meinem Zimmer völlig normal aus.
Aber dann hörte ich, wie unten die Tür aufflog.
Ich stieg aus meinem Bett, um Pa zu holen. Am Treppenabsatz war es stockdunkel, deshalb fand ich den Lichtschalter nicht sofort. Wieder knallte die Tür gegen die Wand. Ich wollte nach Pa rufen, aber ich konnte nicht. Ich würde in sein Zimmer gehen müssen, um ihn wach zu rütteln.
Vielleicht hat er die Tür nicht richtig zugemacht, schoss es mir durch den Kopf. Als ich die Treppe hinunterging, war ich besonders leise – um ihn nun doch nicht aufzuwecken.
Etwa auf der Hälfte der Treppe hörte ich ein Flüstern. Ein Windstoß brachte es mit ins Haus, er blies mir ins Gesicht und meine Wangen wurden kalt.
Kein Zweifel, die Tür stand offen. Am Fuß der Treppe angelangt, schlich ich hin, um sie zu schließen.
Dann drehte ich mich um, wollte wieder nach oben gehen.
Plötzlich hörte ich ein Quietschen hinter mir. Ich blickte zurück und die Tür ging wieder auf. Diesmal stand ein Mann im Türrahmen. In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.
Nie zuvor hatte ich mich so gefürchtet.
»Kester Jaynes? «, fragte er ruhig.
Ich nickte, denn ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
»Ich bin gekommen, um dich zu holen.«
Ein Geräusch in meinem Kopf katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Es ist nicht das metallische Krächzen, das ich im Hof gehört habe, sondern eher ein hoher, schriller Ton wie bei einer Trillerpfeife oder einem Wasserkessel. Einer Pfeife, die zugleich auch Wörter hervorbringt.
Aber außer mir ist niemand da.
Ich schüttle den Kopf, um den Pfeifton wie eine lästige Fliege zu verscheuchen, aber er geht nicht weg. Ich zwinge mich dazu, die Spinne anzusehen, die ruhig auf dem Boden kauert und mich mit ihren acht Augen beobachtet. Das Pfeifen in meinem Kopf wird immer lauter, wie ein Wasserkessel kurz vor dem Explodieren, bis sich das
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