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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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und hatte sich ein Bein verrenkt. Davon kam sein Hinken. Das war nicht die einzige Geschichte.
    In dem Hotel, in dem ich schlief, roch es nach Naphthalin, Moschus und alten Kränzen. Der große Speisesaal hinter dem Schankladen war niedrig, die Decke gewölbt, und die Wände trugen viereckige, braunhölzerne Pflästerchen mit Sprüchen. Anna, das Mädchen, stützte den rechten Arm auf das Fensterbrett und gab acht, daß die Krüge nicht leer wurden. Sie wurden nie leer. Denn die Leute tranken hier nicht sehr viel Wein und klapperten mit den Krugdeckeln, wenn Anna nicht aufpaßte.
    Anna war damals siebenundzwanzig Jahre alt und blond und glatt gekämmt. Sie sah immer so aus, als wäre sie vor einer Weile aus dem Wasser gestiegen. So straff und blank war ihr Gesicht, und so frisch und streng und feuchtblond zogen sich ihre gestrählten Haarsträhnen aus der Stirne.
    Sie hatte schlanke, kräftige, aber schüchterne Hände, von denen ich immer glaubte, daß sie sich schämen.
    Anna stammte aus Böhmen und liebte den Ingenieur. Der Ingenieur war der Betriebsleiter jener Fabrik, in der Annas Vater arbeitete. Anna hatte ein Kind von dem Ingenieur.
    Der Ingenieur hatte geheiratet und Anna Geld gegeben fürs Kind und für die Reise. So war Anna Kellnerin in dem kleinen Städtchen. Ich trat einmal zufällig in Annas Zimmer und sah die Photographie ihres Kindes. Es war ein schönes Kind, es griff mit runden Fäusten in die Luft und trank dieWelt mit großen Augen. Anna war schweigsam und erzählte ihre Geschichte sehr kurz.
    Ich mag Ingenieure dieser Art nicht und liebte Anna.
    »Sie lieben ihn immer noch?« fragte ich Anna.
    »Ja!« sagte sie. Sie sagte es so selbstverständlich und trocken wie irgendeine geschäftliche Auskunft.
    In dem Städtchen gab es ein Kinotheater. Der Besitzer war ein jüdischer Tuchwarenhändler. Er hatte ein Kino gegründet, weil er tüchtig und betriebsam war und es ihn schmerzte, daß er einen ganzen Sonntag nichts zu tun haben sollte. Er verkaufte daher an Wochentagen Tuchwaren und ließ Sonntag im Kino spielen.
    Ins Kino ging ich mit Anna.
    Im Städtchen gab es eine Bibliothek. Der junge Mann, der Besucher zu bedienen und, wenn niemand da war, Staub aufzuwischen hatte, war blaß, romantisch blaß und dünn wie ein auferstandener Dichter und hatte eine blond-gelbe Schopflohe, die von seinem Kopf gegen den Suffit flackerte. Er stand immer auf einer Doppelleiter, er spazierte mit der Doppelleiter hinter dem Ladentisch herum, er konnte es vortrefflich, besser als jeder Zimmermaler. Als hätte er überhaupt nur auf Doppelleitern gehen gelernt. Die Leihbibliothek hatte auch alte, gute Bücher, und ich ging mit Anna in die Leihbibliothek.
    Anna freute sich sehr.
    Manchmal wußte ich, daß Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen, deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich, jedesmal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum Versiegen. Ich liebte Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wußte nicht, wieviel ihr verlorenging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jedeandere Sehnsucht ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und pflegte.
    Ich habe noch nicht vom Park erzählt, in dem die Liebe dieser Stadt blühte. Der Goldregen wucherte leichtsinnig und liederlich zwischen Linden und Kastanien. Die Bänke standen nicht in den Alleen, sondern mitten auf den Beeten. Ich dachte, diese Bänke hätte der Bischof, als sie noch ganz jung waren, in die Erde gepflanzt, und sie wuchsen immer jedes Jahr um ein Stückchen in die Breite. Die Füße hatten sicherlich schon Wurzel gefaßt im lockeren Boden.
    Am Sonntag, nach dem Kino, ging ich mit Anna in den Park.
    Einmal sahen wir, wie zwei sich küßten, und Anna lachte.
    »Es ist nicht gut, Anna«, sagte ich, »über die Liebe zu lachen. Ich mag Menschen nicht, die so lügen können.«
    Da hörte Anna zu lachen auf.
    Als wir nach Hause kamen, erwies es sich, daß der Wirt Anna gesucht hatte, denn es war ein Gast gekommen. Er hatte einen knarrenden, neuen Lederkoffer mit vielen grünen und roten Heftpflästerchen. Er war schwarz gelockt und glutäugig, und er konnte gewiß Mandoline spielen und Mädchen verführen. Hätte ich in seine Brieftasche einen Blick tun können, so hätte ich eine ganze Sammlung bunter Schleifen und blonder Haare und rosa Liebesbriefe gesehn. Aber ich kam nicht dazu und

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