Fieber
Prolog
In einer stetig wachsenden Flut erreichten die giftigen Benzolmoleküle das Knochenmark. Das körperfremde Gift wurde mit dem Blut vorangespült und in das labyrinthische Maschenwerk des Röhrenknochens getragen, bis in die entferntesten Winkel des Feingewebes. Es war, als ob eine Horde rasender Barbaren in das alte Rom einfiele. Das Ergebnis war ähnlich verhängnisvoll. Der komplizierte Mechanismus des Marks, dazu bestimmt, das Blut mit den meisten Zellbestandteilen zu versorgen, erlag den Angreifern.
Jede Zelle, die mit dem Benzol in Berührung kam, wurde attackiert. Die Chemikalie durchschnitt die Zellwände wie ein scharfes Messer, das in ein weiches Stück Butter gedrückt wird. Rote oder weiße Zellen, junge oder reife, es machte keinen Unterschied. Bei einigen wenigen Zellen, die das Glück hatten, daß nur eine geringe Zahl von Benzolmolekülen in sie eingedrungen war, konnten Enzyme die Wirkung des Gifts aufheben. Doch bei den meisten wurden die inneren Zellmembranen sofort zerstört.
Innerhalb weniger Minuten war die Konzentration des Benzols so angestiegen, daß Tausende der giftigen Moleküle in das geheime Herz des Marks vorgedrungen waren, zu den urzeitlichen, empfindlich gebauten Stammzellen. Diese Erbzellen durchliefen einen immerfort währenden Teilungsprozeß, sie dienten als Quelle der zirkulierenden Blutzellen, ihr Leben trug das Zeugnis Hunderter Millionen Jahre Evolution weiter. Von Augenblick zu Augenblick wiederholte sich hier das unfaßbare Geheimnis der Entstehung des Lebens, ein Vorgang, der fantastischer war als der kühnste Traum eines Wissenschaftlers. Blindwütig drangen die Benzolmoleküle in diese unermüdlich arbeitenden Zellen ein und unterbrachen die Übertragung der Geninformationen. Die meisten dieser Stammzellen starben in einem letzten, verzweifelten Aufbäumen. Andere, abgeschnitten von der geheimnisvollen Kontrollinstanz, verfielen, rasend wie tollwütige Tiere, in einen ungelenkten Teilungsprozeß, bis der Tod auch sie erlöste.
Nachdem die Benzolmoleküle von immer neuen Wogen aus sauberem Blut fortgespült worden waren, hätte sich das Knochenmark erholen können. Aber eine der vergifteten Zellen hatte überlebt. Über Jahre hatte diese Zelle eine unvorstellbare Zahl weißer Blutkörperchen hergestellt, deren Aufgabe, es war wie eine Ironie des Schicksals, es eigentlich sein sollte, den Körper gegen fremde Eindringlinge zu verteidigen. Als das Benzol in den Kern dieser Zelle eindrang, beschädigte es einen wichtigen Teil der DNA, aber es tötete die Zelle nicht. Es wäre besser gewesen, wenn auch diese Zelle gestorben wäre, denn das Benzol hatte das empfindliche Gleichgewicht zwischen Zellerneuerung und Reifung zerstört. Als die Zelle sich im nächsten Moment wieder teilte, hatten die Tochterzellen denselben Fehler. Auch sie gehorchten nicht länger der geheimnisvollen zentralen Lenkung und reiften nicht mehr zu normalen weißen Blutzellen. Statt dessen folgten sie jetzt einem unbeschränkten Trieb, ihr fehlerhaftes Selbst immer wieder neu zu erzeugen.
Obwohl diese Zellen in der Markhöhle noch ziemlich gewöhnlich erschienen, unterschieden sie sich doch von anderen jungen weißen Blutzellen. Ihrer Oberfläche fehlte die Klebrigkeit der normalen Zellen, und sie verbrauchten Nährstoffe in einer erschreckend eigennützigen Menge. Sie waren zu Parasiten im eigenen Haus geworden.
Nach nur zwanzig Teilungen waren über eine Million dieser wilden Zellen entstanden. Nach siebenundzwanzig Teilungen war ihre Zahl auf über eine Billion gestiegen. Dann brachen die ersten von dem Klumpen los. Erst waren es nur Tropfen kranker Zellen, die in den Kreislauf eindrangen, dann wurde es ein fließender Strom und schließlich eine Flutwelle. Die Zellen stürzten in alle Regionen des Körpers, begierig, überall fruchtbare Kolonien zu gründen. Nach der vierzigsten Teilung zählten sie schon über eine Trillion.
Es war der Ausbruch einer aggressiven, akuten Myeloblastenleukämie im Körper eines Mädchens, das gerade die Pubertät erreicht hatte. Ein Krebsbefall des Knochenmarks. Er begann am 28. Dezember, zwei Tage nach dem zwölften Geburtstag des Mädchens. Sie hieß Michelle Martel, und sie spürte von alldem nichts – bis auf ein einziges Symptom: sie hatte Fieber.
1. Kapitel
Vorsichtig tastend zog ein kalter Januarmorgen über der eisfrostigen Landschaft von Shaftesbury in New Hampshire herauf. Als der Himmel sich allmählich aufhellte, wichen die
Weitere Kostenlose Bücher