Die großen Erzählungen
fortgeschrittenen Welt ein Mädchen zu grüßen, mit dem man noch nie gesprochen.
Durch den Park knirschte ein rundbäuchiger Spritzwagen, Rasen und Beete berieselnd. Eine Amsel sprang mit Gassenbubengebärden neben dem Wagen her und schlug mit dem linken Flügel gegen die zerstäubenden Wassertropfen. Unsichtbar lärmte irgendwo oben ein ganzes, in die Ferien geschicktes Lerchenpensionat. Rund um die Bänke, die in der Mitte der Beete standen, war das Gras ein wenig müde und hergenommen von der nächtlichen Liebe der Menschen. Und mir entgegen schritt der lange Eisenbahnassistent durch den Park in den Dienst.
Den Eisenbahnassistenten haßte ich. Er war sommersprossig, unglaublich lang und gerade. Ich dachte, sooft ich ihn sah, an einen Brief an den Eisenbahnminister. Ich wollte vorschlagen, den häßlichen Eisenbahnassistenten als Telegraphenstange unterwegs irgendwo zwischen zwei kleinen Stationen zu verwenden. Nie hätte mir der Eisenbahnminister diesen Dienst erwiesen.
Ich wußte nicht, warum ich den Beamten so haßte. Er war außergewöhnlich groß gewachsen, aber ich hasse ja nicht grundsätzlich das Außergewöhnliche. Mir schien, daß der Eisenbahnassistent mit Absicht so hoch hinaufgeschossen sei, und das reizte mich auf. Mir schien, als hätte er seit seiner Jugend nichts anderes getan als wachsen undSommersprossen sammeln. Und außerdem hatte er rötliche Haare.
Auch trug er immer seine Uniform und eine rote Kappe. Er machte langsame und kleine Schritte, obwohl er mit seinen langen Beinen ganz gut rasch hätte gehen können. Aber er ging langsam und wuchs, wuchs, wuchs.
Ich weiß noch heute sehr wenig über den Eisenbahnbeamten. Aber ich hätte damals schon schwören können, daß er viele versteckte Gemeinheiten begangen habe.
Solch ein Eisenbahnassistent konnte zum Beispiel einen Zug, in dem sein persönlicher Feind saß, zu einem Zusammenstoß bringen und die Schuld geschickt auf den Zugführer schieben. Es war eigentlich gefährlich, mit der Eisenbahn zu fahren.
Solch ein Eisenbahnassistent, dachte ich, ist niemals imstande, einer Frau wegen auf seine rote Kappe zu verzichten. Wenn er liebte, so legte er bestimmt die Kappe mit der Öffnung nach oben sorgsam auf einen Stuhl. Er vergaß nicht, die Hose im Bug zusammenzufalten, und verstand gewiß nicht die Lust, einer Frau dankbar zu sein. Er konnte auch Frauen durch eine List überrumpeln. Und eifersüchtig war er auch.
Sooft ich ihn sah, dachte ich über einen Brief an alle Frauen der Welt: Frauen! Hütet Euch vor dem Eisenbahnassistenten!
Anna mochte den Eisenbahnassistenten auch nicht. Anna fragte: »Warum hasse ich ihn?«
Ich wußte nicht, wie ich Anna antworten sollte, und erzählte ihr die Geschichte von Abel, meinem Freund, und der Frau seines Lebens.
Abel, mein Freund, sehnte sich nach New York.
Abel war Maler, Karikaturist. Er hatte bereits karikiert, als er noch nicht einen Bleistift halten konnte. Er achtete dieSchönheit gering und liebte Krüppelei und Verzerrtheit. Er konnte keinen geraden Strich zustande bringen.
Abel achtete die Frauen gering. Männer lieben in einer Frau die Vollkommenheit, die sie zu sehen sich einbilden. Abel aber leugnete die Vollkommenheit.
Er selbst war häßlich, so daß ihn die Frauen liebhatten. Frauen vermuten Vollkommenheit oder Größe hinter männlicher Häßlichkeit.
Einmal gelang es ihm, nach New York zu fahren. Auf dem Schiff sah er zum erstenmal in seinem Leben eine schöne Frau.
Als er im Hafen landete, verschwand ihm die schöne Frau aus den Augen. Da kehrte er mit dem nächsten Schiff nach Europa zurück.
Anna konnte den Zusammenhang zwischen Abel, meinem Freund, und dem langen Eisenbahnassistenten nicht begreifen.
»Warum erzählst du mir von Abel?« fragte sie.
»Anna«, sagte ich, »alle Geschichten hängen zusammen. Weil sie einander ähnlich sind oder weil jede das Entgegengesetzte beweist. Zwischen dem langen Eisenbahnassistenten und meinem Freund Abel ist ein Unterschied. Ein sehr banaler Unterschied: Abel, mein Freund, geht zugrunde, aber der Eisenbahnassistent wird leben und Stationsvorstand werden. Abel, mein Freund, hat eine Sehnsucht. Nie wird der Eisenbahnassistent eine andere Sehnsucht haben als die, Stationsvorsteher zu werden. Abel, mein Freund, lief aus New York fort, weil er die Frau seines Lebens aus den Augen verloren hatte. Nie wird der Eisenbahnassistent einer Frau wegen aus New York fortlaufen.«
Ich war überzeugt, daß Anna nun den Zusammenhang verstehe.
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