Die Günstlinge der Unterwelt - 5
nicht im Wachzustand. Es ist nicht wirklich.«
»Die Träume sind wirklich. Wenn ich wach bin, weiß ich es ebenso.«
»Jetzt bist du wach. Weißt du es jetzt auch, meine Liebe?« Simona nickte. »Und woher weißt du es, wenn du wach bist, und er nicht in deinem Kopf sitzt, um es dir einzureden wie im Traum?«
»Ich kann sein Signal hören.« Ihr Blick wanderte von Vernas Gesicht zu Warren und wieder zurück. »Ich bin nicht verrückt. Bin ich nicht. Hört Ihr die Trommeln nicht?«
»Doch, Schwester, wir hören die Trommeln.« Warren lächelte. »Aber das ist nicht Euer Traum. Das sind nur die Trommeln, die die bevorstehende Ankunft des Kaisers ankündigen.«
Simona legte wieder einen Finger an die Lippen. »Des Kaisers?«
»Ja«, tröstete Warren sie, »des Kaisers der Alten Welt. Er besucht die Stadt. Das ist alles. Deswegen die Trommeln.«
Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten. »Der Kaiser?«
»Ja«, sagte Warren. »Kaiser Jagang.«
Mit einem wilden Schrei sprang Simona in die Ecke. Sie brüllte wie am Spieß und schlug mit den Händen um sich. Verna war sofort bei ihr, versuchte, ihre Arme festzuhalten und sie zu beruhigen.
»Simona, bei uns bist du in Sicherheit. Was ist?«
»Das ist er!« kreischte sie. »Jagang! So lautet der Name des Traumwandlers! Laßt mich gehen! Bitte, laßt mich gehen, bevor er kommt!«
Simona riß sich los, taumelte wild durch die Zelle und jagte ihre Lichtblitze nach allen Seiten. Glühenden Krallen gleich kratzten sie die Farbe von der Wand. Verna und Warren versuchten, Simona zu beruhigen, versuchten sie einzufangen, sie aufzuhalten. Als Simona keinen Weg aus der Zelle fand, ging sie dazu über, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen. Sie war eine zierliche Frau, aber sie schien die Kraft von zehn Männern zu besitzen.
Am Ende war Verna gezwungen, mit größtem Widerwillen den Rada’Han zu benutzen, um die Oberhand zu gewinnen.
Warren heilte Simonas blutende Stirn, nachdem sie sich beruhigt hatte. Verna erinnerte sich an einen Bann, den man ihr beigebracht hatte, um ihn bei frisch im Palast eingetroffenen Burschen einzusetzen, wenn ihnen die Trennung von ihren Eltern Alpträume bereitete, einen Bann zur Besänftigung von Ängsten, der dem verängstigten Kind einen traumlosen Schlaf ermöglichte. Verna umfaßte den Rada’Han mit beiden Händen und ließ einen Strom ihres Han in Simona hineinfließen. Schließlich beruhigte sich ihr Atem, sie erschlaffte und schlief ein. Verna hoffte, daß ihr Schlaf traumlos war.
Mitgenommen lehnte sich Verna an die Tür, nachdem sie diese hinter sich zugemacht hatte. »Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?«
Warren schluckte. »Ich fürchte, ja.«
Das war nicht die Antwort, die Verna erwartet hatte. Mehr brachte er nicht hervor. »Nun?«
»Nun, ich bin nicht so sicher, ob die Schwester wirklich verrückt ist. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne.« Er zupfte verlegen an der Litze des Ärmels seines Gewandes. »Ich werde noch mehr lesen müssen. Kann sein, daß es nichts ist. Die Bücher sind kompliziert. Ich werde Euch wissen lassen, was ich finde.«
Verna küßte ihren Finger, spürte den noch immer ungewohnten Ring der Prälatin an den Lippen. »Geliebter Schöpfer«, betete sie laut, »beschütze diesen törichten jungen Mann, denn ich könnte ihm den Kopf abreißen und ihn mit meinen bloßen Händen erwürgen.«
Warren verdrehte die Augen. »Seht doch, Verna –«
»Prälatin«, verbesserte sie ihn.
Warren seufzte, schließlich nickte er. »Wahrscheinlich sollte ich es Euch sagen, aber so, wie ich es verstehe, handelt es sich um eine sehr alte und unklare Verzweigung. Die Prophezeiungen sind voll von unechten Verzweigungen. Diese hier ist mit einem zweifachen Makel behaftet – wegen ihres Alters und ihrer Seltenheit. Das macht sie verdächtig, auch ohne all das andere. In derart alten Büchern gibt es Überkreuzungen und Fehlleitungen im Überfluß, und die kann ich ohne monatelange Arbeit nicht nachprüfen. Einige der Verbindungen sind durch Dreifachverzweigungen verschlossen. Das Zurückverfolgen einer Dreifachverzweigung gleicht unechte Verzweigungen an den Ästen aus, und falls davon welche dreigeteilt sind, nun, dann müßte das Rätsel, das durch die geometrische Progression erzeugt wird auf die man stößt, weil die –«
Verna legte ihm die Hand auf den Unterarm, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Warren, das weiß ich doch alles. Ich kenne die Progression und Regression in ihrem Verhältnis zu
Weitere Kostenlose Bücher