Die guten Schwestern
Nebenstraße.
Ich richtete mich auf.
»Was ist mit ihr?«
»In diesem Teil der Welt kann ich die alten Angewohnheiten einfach nicht ablegen, auch wenn sie inzwischen Mitglied der NATO sind und auf dem Weg in die EU. Ich kann es nun mal nicht lassen, mich umzusehen. Weißt du noch, wie wir damals in Moskau manchmal richtig gespürt haben, daß wir beschattet wurden?«
Ich nickte. Daran konnte ich mich gut erinnern. Wir hatten ja nicht ständig die Nasen in die staubigen Bände gesteckt, die in den endlosen Lesesälen des gelben Palastes der Leninbibliothek standen. Wir hatten ja auch Leute getroffen. Wir hatten die gastfreundlichen Russen besucht und wußten, daß sie wußten, daß die gefährlichen Ausländer beobachtet wurden, die die giftigen Ideen von Demokratie und Freiheit verbreiten konnten.
»Was ist mit ihr?« fragte ich noch einmal.
Lasse sah sich nach ihr um, aber sie war längst weg. Dann sagte er, während er mich am Arm faßte und fortführte:
»Als du gestern deinen Vortrag im Wirtschaftsinstitut gehalten hast, saß sie in der letzten Reihe. Daran mußte ich denken, als sie heute früh im Historischen Institut in der ersten Reihe saß, als du über Stagnationsphänomene sprechen solltest…«
»Vergiß es. Die haben alle wunderbar geschlafen, während der ganzen Veranstaltung.«
»Hör auf, so hart mit dir selbst zu sein. Du bist ein guter Vortragender, und die Geschichtsstudenten brauchen deine Kenntnisse.«
»Nun erzähl mal weiter«, sagte ich, während wir durch die nun etwas kühlere, späte Nachmittagssonne gingen. Es war erst März. Es war bestimmt ein trügerischer Frühling.
»Sie war in der Hotellobby, und jetzt ist sie hier. Ein bißchen viel Zufall.«
»Du siehst Gespenster«, sagte ich. »Der kalte Krieg ist seit langem vorbei. Wir haben ja gewonnen. Die Polen haben gewonnen.«
»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte er. »Sie ist bestimmt nur eine Touristin. So viel gibt’s ja nicht zu sehen. Aber ich finde es schon seltsam. Es wirkt professionell. Man hat das Gefühl, daß sie uns schon lange beschattet und dann entschieden hat, sich zu zeigen. Genau wie der KGB in alten Tagen.«
»Die Zeit ist vorbei«, sagte ich.
Aber in Prag tauchte sie wieder auf. Während des Symposiums in der Karls-Universität, wo wir auf dem Podium in Reih und Glied saßen und uns und die Zuhörer im Auditorium langweilten. Ich döste vor mich hin, während Lena dozierte und Delegationsleiter Brandt sich in lange Erklärungen verstrickte. Sie saß wieder in einer der hintersten Reihen, weit oben. Lasse und ich entdeckten sie fast gleichzeitig. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid mit einer weißen, adretten Halskette. Scheinbar hörte sie aufmerksam zu. Machte sich Notizen und ähnelte einer kultivierten Frau reifen Alters, die sich noch einmal entschlossen hatte, an irgendeinem Kurs der Volkshochschule teilzunehmen. Der Mann ist weg. Die Kinder sind von zu Hause ausgezogen. Nun ist Zeit für Bildung und Kultur. In der Pause eilte ich vom Podium hinunter, um sie zur Rede zu stellen, doch sie war verschwunden. Ebenso unbemerkt, wie sie aufgetaucht war. Denn ich hatte sie nicht hereinkommen sehen, und ich habe sie nicht hinausgehen sehen.
Dann gab es den Empfang im Außenministerium, auf dem der ehemalige Ministerpräsident seine Bemerkung fallenließ, und der Abend war für mich gelaufen. Ich trank zuviel in der Bar, ging dann aber doch auf mein Zimmer. Ich rief zu Hause an, keiner nahm ab, und ich schlief mit einem schlechten Geschmack im Mund ein, den keine Zahnpasta entfernen konnte.
Am nächsten Morgen trieb uns der Delegationsleiter zur Eile an wie kleine Kinder, und ich merkte, wie sein Blutdruck stieg, als ich absichtlich zu spät kam und meine Zigarette zu Ende rauchte, bevor ich in den Bus stieg, der uns nach Preßburg bringen sollte. Das animierte nämlich andere Raucher unserer Gruppe, wieder auszusteigen und sich auch eine anzustecken. Es drohte Anarchie, und die rot angelaufene Visage des Delegationsleiters versetzte mich wieder in etwas bessere Stimmung. Natürlich hatte Lasse den Auftritt beobachtet.
»Kindisch«, sagte er, als ich mich neben ihn setzte.
Aber die bösartige Bemerkung des tschechischen Politikers hatte gesessen. Meine Laune ließ immer noch zu wünschen übrig, ich konnte die zarte böhmische Frühlingslandschaft mit den eingesunkenen Heuhaufen nicht so recht würdigen. Die Landschaft mit den kleinen Höfen erinnerte mich an das Dänemark der fünfziger Jahre. Sie
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