Die guten Schwestern
bei einem Bewerbungsgespräch.
»Zuerst muß ich dir mein Beileid aussprechen, zum Tod deines, das heißt unseres Vaters«, sagte sie.
»Jetzt machen Sie mal halblang«, sagte ich. »Was soll denn das heißen? Mein Vater starb vor fast fünfzig Jahren. Ich habe ihn kaum gekannt. Er verließ uns, als ich ganz klein war. Das ist tausend Jahre her. Ein anderes Zeitalter.«
Mit schnellen, effektiven Bewegungen öffnete sie ihre Tasche und entnahm ihr einen großen gelben Umschlag, aus dem sie ein Schwarzweißfoto angelte, das sie mir gab. Auf dem Bild lächelte ein junger Mann das gleiche Lächeln wie Irma und Fritz. Er hatte schwarzes Haar, war glatt rasiert, hatte ein kleines dreieckiges Kinn und eine hohe Stirn und trug eine deutsche Militärschirmmütze. Auf der Schirmmütze und der altmodischen, schwarzen Uniformjacke sah man deutlich die SS-Runen. Die SS-Dienstgrade sind nicht gerade meine Spezialität, aber nach den Abzeichen zu urteilen tippte ich auf Sturmbannführer. Mein biologischer Vater als Major der Waffen-SS. Das paßte nicht zusammen. Das Gesicht gehörte ganz eindeutig dem Vater, an den ich mich nicht erinnerte, von dem ich aber Bilder gesehen hatte. Die SS-Uniform setzte mich einen Moment lang außer Gefecht. Ich fing an zu schwitzen. Die Frau betrachtete mich aufmerksam und reichte mir ein neues Foto.
Es war in Farbe. Es zeigte denselben Mann. Er war jetzt einige Jahre älter. Sein Haar hatte graue Strähnen, war aber immer noch dicht. Er hatte den Arm um eine etwas molligere, kleine Frau gelegt, die ein großgeblümtes Sommerkleid trug. Sie standen vor einem gelben Haus. Man konnte ein paar Weinranken erkennen. Ein Stück blauen Himmel. Kunterbunte Blumen in Krügen und Vasen. Ein großes Mädchen lehnte sich an den Mann. Sie hatte ein einfaches gelbes Kleid an, das der Wind ein wenig hob, so daß man die nackten braunen Beine sehen konnte. Es war die jüngere Ausgabe der Frau, die jetzt vor mir in dem Hotel in Preßburg saß. Als junges Mädchen ist sie ungewöhnlich schön gewesen. Es war ein hübsches, idyllisches Sommerbild. Ich reichte es ihr wortlos zurück, und ebenso stumm gab sie mir ein weiteres Foto.
Wieder eine Farbaufnahme. Es war derselbe Mann, aber auf seinem Sterbebett. Sein Haar war dünn und weiß, er hatte ausgeprägte Gesichtszüge und eine so dünne Haut, daß man bis auf die Schädelknochen zu blicken meinte. Er trug ein weißes Hemd. Die Augen waren geschlossen. Die Hände waren über der mageren Brust gefaltet. Der Tod hatte den kräftigen Mann geholt, den die Frau mir gegenüber als unseren gemeinsamen Vater bezeichnet hatte.
Ich verstand absolut gar nichts. Jede Familie hat ihre Mythen und Legenden, ihre Geheimnisse und Verdrängungen, und meine hatte viele davon. Die Familiengeschichte war eine Tragödie, aber auch ein Erfolg. Die Bäckerei meiner Eltern war auf den Hund gekommen, weil die Leute angefangen hatten zu reden. »Wahrscheinlich hat der Bäcker im Krieg auf der verkehrten Seite gestanden. Anständige Menschen sollten ihr Brot lieber woanders kaufen.« Aber als Kind habe ich nie erfahren, was genau er getan hatte. Er mußte wohl in Deutschland Arbeit angenommen haben. Aber das hatten 100000 andere auch getan. Sonst hätten sie jegliche finanzielle Unterstützung verloren. Ich wußte, daß er in der Bovrup-Kartei stand. Er war Mitglied der DNSAP gewesen. Aber das waren 40000 andere auch. Das war ja nicht ungesetzlich, aber in der Nachkriegszeit natürlich ein Kainszeichen. Als Kind dachte ich nicht viel darüber nach. Ich war der Nachkömmling und von meiner Mutter, meinem Stiefvater und Irma und Fritz verhätschelt und verwöhnt. Ich war auch zu klein, um die Trennung zu verstehen, die dem sozialen Abstieg folgte. Für meine großen Geschwister war es ein Trauma gewesen, das wußte ich. Sie konnten den neuen Mann unserer Mutter nicht leiden, aber für mich war er mein Vater, und zwar bis zu seinem Tod vor fünf Jahren. Wir Kinder haben alle drei Karriere gemacht, zwei davon in der akademischen Welt. Ich war Historiker, meine Schwester ebenfalls, außerdem war sie Professorin in Vergleichender Literaturwissenschaft, mit dem Fachgebiet Feminismus natürlich. Fritz war von Haus aus Bäcker, aber er hatte seine eigene Brotfabrik aufgebaut und stellte Brötchen und andere Backwaren am Fließband her, die in den Supermärkten als traditionelle Handwerksprodukte verkauft wurden, obwohl sie durch und durch industrialisiert waren. Aber er hatte schon früh entdeckt,
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