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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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könnten sie den Anblick des Ungeheuers, dessen sie ansichtig geworden waren, nie vergessen. Es herrschte weder Ordnung noch Unordnung. Nur ein offenbar sinnloses Chaos, wie wenn ein Kind an einem Sommertag in einem Ameisenhaufen herumstochert, so daß der gewohnte Rhythmus zerstört wird und alle verwirrt und entsetzt herumwuseln, um herauszufinden, welche geheimen Mächte ihr Zuhause heimgesucht und das Dasein zerschmettert haben. Aber die halbwüchsigen Burschen strömten zu den Lastwagen und bildeten unverzüglich eine lange Reihe, man sah, daß sie das nicht zum erstenmal machten, sie reichten die Pappkartons von Hand zu Hand und ließen sie auf diese Weise von der Ladefläche in eines der vierstöckigen Fabrikgebäude wandern. Diese waren früher einmal rot gewesen, jetzt hatten sie eine fäkalienbraune Farbe angenommen. Die Fenster hatten keine Scheiben, und aus vielen Gebäuden drang ein merkwürdig schwerer, schaler Dunst von ungewaschenen Körpern und Urin. Die Erde zwischen den Häusern war zu einem schwarzen, klebrigen Morast geknetet worden. In einem Fenster sah Toftlund eine ältere Frau mit leerem Blick. Aus einem anderen Fenster schaute ihn ein kleines Kind mit dem Finger im Mund und großen, schönen Augen an. Erwachsene Männer gab es kaum. Die wenigen, die Toftlund sah, waren alt. Einer von ihnen war ein kleines, dürres Männchen mit fettiger Mütze und harten grauen Bartstoppeln. Er hatte einen langen, dünnen Stock in der Hand, und wenn er meinte, die plappernden und lachenden Kinder bettelten zu heftig um Schokolade und Kaugummi, gab er ihnen einen leichten Klaps mit dem Stock, wobei er wie ein Rohrspatz zeterte. Niemand kümmerte sich darum. Es war auch kein System in seinen Bestrafungsaktionen erkennbar. Manche der Kleinen konnten betteln, lachen, springen und drängeln, ohne daß es ihn störte, andere kriegten schon einen Schlag, wenn sie sich den Süßigkeiten auch nur näherten. Kinder, die getroffen wurden, riefen aua, stießen einen kleinen Jammerschrei aus, duckten sich und liefen weg. Und dem sirrenden Rohr ausweichen, das konnten sie gut. Aber diese unnötige kleine Gewalt, die das trostlose Resultat der großen systematischen Gewalt war, ließ in Toftlund Wut aufsteigen. Ein kleiner Kerl in viel zu großen Gummistiefeln, dem der Rotz in Girlanden unter der Nase hing, drängte sich zwischen den größeren Burschen bis zu einem der britischen Fahrer vor, der Schokolade verteilte. Der Alte mit dem Stock entdeckte ihn und versuchte mehrmals, ihn zu treffen, aber der Kleine war zu behende. Er kriegte seine Schokolade und ein Päckchen Kaugummi. Sein Gesicht erstrahlte in einem großen Lächeln. Der Alte machte ein paar Schritte und hob den Stock, da konnte Toftlund nicht mehr an sich halten. Als der Stock niedersauste, packte er zu, spürte das Brennen in seiner Handfläche, als er ihn dem Männchen aus der Hand wand und ihn über dem Knie zerbrach, bevor er die Stücke auf den Boden schleuderte. Der alte Mann drehte sich um und sah ihn verblüfft und erschrocken an, während die Kinder in einem Kreis zurückwichen und Toftlunds rasendes Gesicht mit den eiskalten, fremden Augen und seine zum Schlag erhobene Faust entsetzt anstarrten.
    »Laß sie in Frieden, du Scheißkerl!« brüllte Toftlund. »Laß sie verdammt noch mal in Frieden. Sie wollen doch nur ein bißchen Schokolade haben!«
    Der Alte sah Toftlund an, zog sich ein paar Schritte zurück, sammelte die Stücke auf und fing an, etwas Unverständliches zu murmeln, während er mit dem Kopf und am ganzen Körper zitterte. Er entfernte sich von der Schar und der Menschenkette, die in ihrer Bewegung verharrt war wie ein Fließband mit einem plötzlichen Defekt, und stellte sich an die Wand, die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Drei Frauen warfen Toftlund wütende Blicke zu und gingen zu dem Alten, um ihn zu trösten.
    Toftlund spürte eine Hand auf seinem Arm und spannte die Muskeln an, während er sich halb umwandte, beruhigte sich aber, als er Andres melancholisches Gesicht sah.
    »Kommen Sie, Mr. Toftlund. Kommen Sie, und lassen wir sie allein.«
    Toftlund folgte ihm. Teddy stand nicht weit entfernt und hatte die Szene beobachtet. Er lächelte sarkastisch. Kaum war Toftlund besänftigt, fingen die Pappkartons mit Binden und Toilettenpapier wieder zu wandern an, die Kinderstimmen erhoben sich, und der Alte war mit den Überresten seines Stocks auch wieder an Ort und Stelle.
    »Warum hat er sie geschlagen? Es gab überhaupt

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