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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Toiletten eingetroffen waren. In einem Flüchtlingslager bestätigten sich die elementarsten Bedürfnisse des Menschen. Er spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte, und er beeilte sich hinauszukommen. Systematisch trat er in einen Treppenaufgang nach dem anderen ein. Er konnte sie sonst nicht auseinanderhalten. Treppauf, treppab schaute er in die gleichen rechteckigen alten Fabrikräume mit den immer gleichen Etagenbetten und dem Geruch von den ungewaschenen Körpern der kauernden Menschen und von den grauen dreckigen, kalten Betonwänden. Daher wollte er seinem eigenen Geruchssinn nicht trauen, als es plötzlich so stark, daß er sich mit einem Ruck in seine allerfrüheste Kindheit zurückversetzt fühlte, nach frischgebackenem Brot duftete. Es war dieser unverkennbare Geruch von Brot, den er wahrnahm und der ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ und den Gestank der Fäkalien vertrieb. Sein Herz fing an schneller zu schlagen, und er witterte wie ein Hund, so heftig kam ihm die Bäckerei des Vaters in den Sinn, an die er sich sonst kaum erinnern konnte. Plötzlich stand er dort und sah deutlich Vaters weißen Rücken vor sich, der gebeugt vor der Ofenklappe stand und die frischgebackenen Weißbrote auf einer Platte am Ende einer langen Holzstange aus dem Ofen zog.
    Teddy betrat einen Raum. Er war wie die übrigen fast leer, aber an der einen Wand stand ein langer Tisch, auf dem helles und dunkles Brot gestapelt war. Parallel dazu stand ein zweiter, ebenso langer Tisch. Zwischen beiden Tischen arbeiteten zwei Frauen. Eine Menschenschlange bewegte sich langsam vorwärts. Meist größere Kinder und Frauen. Auch ein paar kleine Kinder. Alle bekamen zwei Brotlaibe ausgehändigt, die sie wie eine wertvolle Trophäe davontrugen. Der Duft des Brotes überlagerte den menschlichen Geruch. Die eine der beiden Frauen war ein Teenager in engen Bluejeans und einem Sweatshirt, das absurderweise Werbung für das Hard Rock Café in Los Angeles machte. Sie nahm die Brote von den Stapeln und reichte sie der anderen Frau, die sie an die Flüchtlinge ausgab. Teddy betrachtete ihre schlanke Gestalt in der schwarzen Hose und das melancholische, schmale Gesicht unter dem nußbraunen Haar. Die ganze Operation verlief ruhig, mechanisch, geregelt und ohne jede Andeutung von Chaos, und als das letzte Brot ausgegeben war, verharrten die Schlange stehenden Menschen geduldig auf ihrem Platz. Das junge Mädchen sagte etwas auf albanisch zu ihnen, was, so vermutete Teddy, wohl bedeuten sollte, daß sie nur zu warten brauchten, eine neue Lieferung würde bald kommen. Anscheinend vertrauten sie ihr. Denn es machte sich keine Unruhe breit, keine Anzeichen eines verzweifelten Ringens um ein einzelnes Brot, wie er es noch vor einem Monat im dänischen Fernsehen gesehen hatte. Teddy ging zu dem Ausgabetisch. Er stellte sich vor seine Halbschwester und sagte:
    »Dobry djen, moja sestra.«
    Sie lächelte ihn an und sagte ebenfalls auf russisch:
    »Guten Tag, Teddy. Ich habe damit gerechnet, daß du mich finden würdest. Laß uns nach draußen gehen. Es dauert sowieso ein bis zwei Stunden, bis die nächste Brotladung eintrifft und abgeladen wird.«
    Den Duft von Brot in der Nase, setzten sie sich, den Rücken an eine weiße Mauer gelehnt, auf zwei kleine Schemel. Sie waren allein, etwas abseits von dem ganzen Getriebe. Teddy vermutete, daß sich das Personal hier hin und wieder eine Pause gönnte. Sie rauchten und genossen die Sonne, die wunderbarerweise hervorgekommen war, als hätte der liebe Gott wie ein Bühnenmeister den Wolkenvorhang zur Seite gezogen. Die Sonne wärmte, sie wandten den Kopf zum Licht, das den Schnee auf den fernen Berggipfeln wie Kristall glänzen ließ. Sie redeten weiter russisch. Die Sprache schien eine Privatsphäre um sie herum zu schaffen, weil sie nicht davon ausgingen, daß andere sie verstehen würden. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette und blinzelte in das grelle Frühlingslicht.
    »Jetzt ist bald Mai, dann kommt der Sommer in dieser Gegend. Und zwar nicht langsam wie bei euch, sondern ganz plötzlich«, sagte sie. »Dann kommt auch der Frieden.«
    »Das glaubst du.«
    »Das will ich glauben.«
    Teddy schwenkte seinen Arm im Halbkreis, so daß der Rauch seiner Zigarette einen dünnen grauweißen Streifen hinter sich herzog, der wie eine Miniaturausgabe des Kondenzstreifens eines NATO-Düsenjägers aussah.
    »Dann können die also alle wieder nach Hause gehen.«
    »Ja. Das tun sie auch. Nach Hause zu ihren

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