Die guten Schwestern
Dantes Hölle zu erklären, gab aber schnell wieder auf, weil der Mann augenscheinlich keinen blassen Schimmer hatte, wovon da eigentlich die Rede war. Aber genau so erlebte Teddy das Flüchtlingslager in der stillgelegten, ehemaligen sozialistischen Zigarettenfabrik in Shkodër. Als Ergänzung zu Dantes Beschreibung der neun Höllenkreise. Es erinnerte ihn auch an ein KZ. Die großen roten vier- oder sechsstöckigen Gebäude mit den vergitterten Fenstern. Das Menschengewimmel im schwarzen Matsch und die seltsam toten Kinderaugen, die unter den Plastikplanen der Pritschenwagen hervorlugten, auf denen sie von den unbestellten Feldern und aus den niedergebrannten Häusern hertransportiert worden waren. Er hatte Mira oder Maria an der Wasserstelle gesehen, die von einem langen Wasserschlauch der UNHCR gespeist wurde. Sie trug eine weiße Jacke mit schwarzer Hose, ihr Haar war kurz und nußbraun gefärbt. Die Frauen waren dabei, das bißchen Wäsche, das sie hatten retten können, zu waschen. Wie immer waren es die Frauen, die dafür sorgten, daß sich das Leben so erträglich wie möglich gestaltete, selbst unter den unerträglichsten Verhältnissen. Kleine und etwas größere Kinder wuselten um sie herum, quengelten, wurden getröstet und kriegten irgendeinen Happen zu kauen. Die paar erwachsenen oder jungen Männer guckten zu und steckten sich eine Zigarette nach der anderen ins Gesicht. Es war weder kalt noch warm, sondern drinnen wie draußen feucht und klamm. Toftlund und Teddy standen etwas herum, sie wußten nicht recht, wie sie ihre Aufgabe anpacken sollten. Sie hörten das Geräusch ratternder Rotorblätter, zwischen den Bergen erschienen drei NATO-Hubschrauber und flogen über das Tal. Das brachte Leben in die Kinder. Sie sprangen im Matsch herum, hoben ihre geballte Faust oder machten das V-Zeichen und schrieen in ihrem Balkan-Englisch: »Go! Go! Go! Kill the Serbs! Kill the Serbs!«
»Mein Gott«, sagte Toftlund.
»Ich glaube nicht, daß der hier irgendwo in der Nähe ist«, sagte Teddy. »Was machen wir jetzt?«
Toftlund zögerte.
»Wir trennen uns. Vielleicht ist es am besten, wenn du deine Schwester alleine suchst. Sag ihr, daß ich nur mit ihr sprechen will. Sag ihr, daß sie keine Angst zu haben braucht.«
»Gut.«
Die Hubschrauber flogen tief über die Fabrik hinweg. Die Kinder hopsten und tanzten und jubelten. Die wenigen Männer ballten die Fäuste und lächelten, ohne die Kippen aus dem Mund zu nehmen. Die Frauen beugten die Köpfe über die Wäsche und wandten den Blick von den Kriegsmaschinen ab, an denen man deutlich die große Kanone und die befestigten Missiles erkennen konnte. Sie glichen verwachsenen, bösartigen Insekten, die über das Flüchtlingslager hinwegratterten und ihren Flug über Shkodër bis zu ihrem Stützpunkt in Durrës fortsetzten. Vor dem Zaun standen zwei Buden mit Früchten, Konserven, Kaugummi, Schokolade, Branntwein und Bier, aber es gab keine Kunden, denn die Flüchtlinge hatten kein Geld. So schauten auch die Albaner, die hier ein bißchen Geld verdienen wollten, in die Luft und winkten mit einem breiten Lächeln, das die grauen Stahlplomben enthüllte, bis die Hubschrauber wie kleine Raubvögel in der Ferne verschwanden. Ein weißer Rotkreuzwagen fuhr an den Buden vorbei auf das Eingangstor zu. Vorne saßen zwei Männer in weißen Jacken, während durch die getönten Scheiben des notdürftig lackierten Landrovers auf dem Rücksitz noch ein dritter zu erkennen war.
Als Teddy über das große Fabrikgelände mit den abblätternden roten Mauern ging, verzweifelte er immer mehr. In allen Stockwerken lagen oder saßen Menschen auf den Gitterbetten, die die UNO hatte aufstellen lassen. Ein Etagenbett nach dem anderen. Gestapelt und verpackt wie Batterievieh. Aber selbst in der Not versuchten die Menschen sich einen eigenen, privaten Raum zu schaffen. Eine bunte Decke, ein paar Kissen, ein, zwei Bilder von den Vermißten, eine aufgehängte zweite Decke – so hatte man zumindest das Gefühl von ein bißchen Privatleben, auch wenn es noch so falsch war. Die UNO hatte eine Reihe chemischer Toiletten aufstellen lassen. Ein herber Gestank ging von ihnen aus, aber vor den engen Metallboxen standen die stummen Menschen mit leerer Miene in der Schlange. Aber der Geruch war nichts im Vergleich mit dem Gestank im ersten Hauseingang, bei dem Teddy übel wurde, sobald er eingetreten war. Hier hatten die ersten tausend ihre Notdurft verrichtet, ehe vor einigen Tagen die chemischen
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