Die guten Schwestern
wartete? Ob sie mit Pernille aus war?
Um das beginnende Chaos auf Distanz zu halten, setzte er sich mit seinen Notizen hin, aber das hatte auch keinen Zweck. Er hatte Hunger und gleichzeitig keinen Hunger. Statt dessen rief er die Nummer an, die ihm Gelbert in Warschau gegeben hatte. Eine Frauenstimme antwortete auf slowakisch, und Toftlund bat auf englisch, mit Pavel Samson sprechen zu dürfen. Er hörte die Frau rufen. Im Hintergrund waren Kinderstimmen und ein Fernseher zu vernehmen. Häusliche Gemütlichkeit an einem regnerischen, kalten Abend in Preßburg. Er wurde neidisch und fühlte sich so weit weg von zu Hause und mußte sich anstrengen, um das kindische Gefühl wieder abzuschütteln.
»Samson«, sagte eine dünne Stimme.
»Do you speak English?« fragte Toftlund.
»I do.«
»Mein Name ist…«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
»Können wir uns treffen?«
»Heute abend nicht mehr.«
»Morgen?«
»Gehen Sie durch das Stadttor in die Altstadt hinunter, immer geradeaus. Sie kommen dann zu einer Statue, die aussieht wie ein Mann, der aus einem Gully klettert. Warten Sie dort. Gegen zehn.«
»Ich möchte nur…«, sagte Toftlund, aber Pavel Samson hatte aufgelegt.
Toftlund schrieb die Anweisungen auf. Dann ging er ins Hotelrestaurant und aß ein Schweinekotelett mit dicken Kartoffelknödeln und Rotkohl. Es schmeckte weder gut noch schlecht, aber es war eine Mahlzeit. Er trank fast eine ganze Flasche schweren Rotwein, ging in sein Zimmer zurück und rief wieder zu Hause an. Immer noch keiner, der abnahm. Diesmal hinterließ er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Lises weiche, sexy Stimme machte ihn ganz krank ums Herz. Genau diese Worte kamen ihm in den Sinn. Krank ums Herz. Eigentlich so ein Illustriertengewäsch, aber mit dem Regen vor den Fensterscheiben drückten sie genau das aus, was er im Augenblick empfand. Er machte den Fernseher an und suchte sich auf dem Hotelvideo einen gebührenpflichtigen Film aus. Stirb langsam 2. Genau, was er jetzt brauchte. Er war gegen Mitternacht zu Ende. Er rief noch einmal zu Hause an und erwischte wieder nur den AB. Zunächst war er besorgt. Wenn sie nur nicht ins Krankenhaus gekommen war. Aber dann dachte er, sie übernachtet sicher bei Pernille in der Stadt. Dann ging er ins Bett und schlief wie gewöhnlich auf der Stelle ein.
Toftlund erwachte gut ausgeruht. Er wußte nicht mehr, was er geträumt hatte. Nur an den kurzen Traum vorm Erwachen, im Halbschlaf, erinnerte er sich noch, da standen Lise und er an einem blanken grauen See und beobachteten ihre Tochter. Sie war schon drei Jahre alt, trug ein weißes Kleidchen und kam ihnen auf dem Wasser mit einer Papierschwalbe in der Hand entgegen. Als er ganz wach geworden war, hatte er noch ihr fröhliches Gesicht und ihr Lachen im Gedächtnis, das über die glatte Wasseroberfläche hüpfte. Die Sonne schien, was seine Laune noch verbesserte. Kleine Schäfchenwolken schwebten am hohen Himmel, als hätte ein Maler sie mit lockerer Hand auf eine Leinwand gekleckst. Das häßliche Kriegerdenkmal stand im hellen Morgenlicht da.
Er nahm ein reichliches Frühstück zu sich, mit Bacon, Rührei, Würstchen, Brot und Käse. Im Frühstücksraum saßen nur Männer, wahrscheinlich internationale Geschäftsleute. Die ewig umherziehenden Reisenden der neuen globalen Wirtschaft, die mehr auf Achse waren als zu Hause. Eine Art moderner Pilger, die den einzigen Göttern dienten, die sie hatten: Geschäftsverträgen und Geld. Alle hatten die gleichen ausdruckslosen, müden Augen. Die schneeweißen Hemden und gepflegten, diskreten Krawatten konnten über die Reiseunlust und den Widerwillen gegen die endlosen Frühstücke in anonymen Hotelrestaurants nicht hinwegtäuschen.
Toftlund verließ das Hotel zehn Minuten vor zehn. Er hatte auf dem Stadtplan gesehen, daß es bis zu den neuen Skulpturen, wie die Empfangsdame sie nannte, nur ein Fußweg von wenigen Minuten war. Er bog um eine Ecke, durchschritt ein altes Stadttor und kam in ein Viertel mit engen, gepflasterten Sträßchen. Es waren nur wenige Fußgänger unterwegs. Im selben Augenblick, als er sich in den Gassen hinter dem Tor befand, hörte der Verkehrslärm auf. Die Stille der Altstadt umgab ihn. Die Geräusche waren gedämpft, schnelle Schritte auf dem Pflaster, eine Stimme, die eine Oktave höher wurde, das helle Lachen einer Frau im Sonnenschein. Nur wenn ein Handy seine Melodie spielte, schien das Geräusch zwischen den leicht geschwärzten Mauern hin und her zu
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