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Die guten Schwestern

Die guten Schwestern

Titel: Die guten Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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springen. Ein paar zerlumpte Zigeunerkinder glotzte er so böse an, daß sie wie verschreckte Hühner von ihm wichen. Er ging an zwei Bettlern und einem alten Mann in einem verschlissenen schwarzen Frack vorbei, der kläglich Geige spielte. Vor dem heruntergekommenen Musiker lag eine fettige Mütze. Zwei bescheidene Münzen schimmerten matt in der Sonne. Ein neuer Tag der neuen Weltordnung hatte in Europas jüngster Nation begonnen.
    Aus der Entfernung dachte Toftlund zunächst, die Skulptur sei ein richtiger Mensch. Es bestand eine verblüffende Ähnlichkeit. Erst als er näher kam, verriet die silbergraue Farbe, daß es sich um ein naturalistisches Kunstwerk handelte. Es stellte einen Arbeiter mit Helm dar, der aus der Kanalisation oder einem Mannloch stieg. Als hätte er eben ein defektes Telefonkabel oder etwas Ähnliches repariert. Toftlund stellte sich neben die Skulptur, die sich an einer Kreuzung befand. Einige Passanten überquerten den kleinen Platz. Die jungen Leute schleckten Eis oder redeten in ihr Handy oder taten beides gleichzeitig. Sie sahen eigentlich ziemlich schick aus, dachte er. Dann kam plötzlich ein Wesen aus einer ganz anderen Welt vorbei. Ein steinaltes Mütterchen mit einem Schal über der gebeugten Schulter und einem Haufen Goldzähne. Sie war eingepackt, als wäre es mitten im Winter und nicht ein erstaunlich schöner Frühlingstag. Dann sah er zwei jüngere Typen in der klassischen Aufmachung der osteuropäischen Mafia: Blue Jeans, Lederjacke, kurz geschoren, Stiernacken. Der eine hatte einen kleinen Goldring im Ohr und eine schiefe Nase, als wäre er Boxer. Sie guckten ihn an und gingen vorbei, blieben an einer Ecke stehen und zündeten sich eine Marlboro an.
    Toftlund wartete eine Viertelstunde. Er ging ein wenig hin und her und schaute sich die Geschäfte an. Eines verkaufte Radios und Fernseher und Mobiltelefone, ein anderes Musikinstrumente, und das dritte war eine Buchhandlung, er konnte nicht einmal die Titel der ausgestellten Bücher entziffern. Immer wenn er sich fünfzig bis fünfundsiebzig Meter entfernt hatte, ging er zu der stummen Skulptur zurück. An den Passanten konnte er sehen, daß der Kapitalismus gesiegt hatte. Der Geschmack der Jugendlichen wurde von den großen Marken bestimmt. Besonders der Geschmack der jungen Mädchen. Trotzdem war der osteuropäische Touch nicht zu verkennen, wenn sie auf dünnen Beinen und viel zu hohen Plateausohlen durch die Gegend staksten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der die Werbeplakate irgendeinen heute längst vergessenen Fünfjahresplan gepriesen hatten. Aber das alte Plakat, das dazu aufforderte, der Partei auf dem Weg zum Sozialismus zu folgen, war vom Plakat eines internationalen Versicherungskonzerns abgelöst worden. Hammer und Sichel von Sonys Firmenzeichen. Die stolze Arbeiterin von einer erotischen Werbung für ein neues Mobiltelefon. Einst verhießen die kommunistischen Slogans ewiges Glück, wenn man nur den Parolen der Partei folgte. Jetzt verhieß Ericsson Sex, wenn man sein kleines neues Handy kaufte und damit die Auserkorene anrief.
    Ein Zigeunerjunge kam vorbei. Er hatte abgeschabte Jeans an, dazu ein zerknittertes Hemd unter einer dreckigen Lederjacke. Die nackten Füße steckten in Joggingschuhen, die ihm viel zu groß zu sein schienen. Toftlund bereitete sich schon darauf vor, ihm seinen abweisenden Blick zuzuwerfen. Seine kalten Bullenaugen, wie Lise sie einmal genannt hatte, als er böse auf sie war, was er im übrigen fünf Minuten später bereut hatte. Aber irgend etwas veranlaßte ihn, sich zurückzuhalten und den Jungen nicht von vornherein abblitzen zu lassen. Dem Jungen fehlten zwei Schneidezähne. Er reckte ihm bittend die rechte Hand entgegen und sagte etwas auf slowakisch. Wie ein Taschenspieler machte er blitzschnell die Linke auf und wieder zu, so daß Toftlund einen kurzen Augenblick ein zusammengefaltetes Stück Papier sah, das zwischen seinen Fingern lag. Toftlund steckte die Hand in die Hosentasche und fischte einen Dollarschein heraus. Währenddessen mußte der Junge den Zettel mit einer so raschen und zaubertrickartigen Bewegung von der linken in die rechte Hand transportiert haben, daß das träge Auge es nicht hatte verfolgen können. Als Toftlund nämlich die zehn Dollar in seine Hand legte, merkte er, wie der Junge ihm, ohne ihn anzuschauen, das kleine zusammengefaltete Papierstück in die Hand drückte. Dann ging er mit raschen, fast tänzerischen Schritten von dannen. Toftlund steckte das

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