Die Händlerin von Babylon
näherte sich einem ruhenden Hirten. Er schnitzte ohne aufzusehen mit einem kleinen Messer an etwas herum. »Ich möchte nach meinen Schafen sehen«, sagte sie.
»Welche gehören dir?«
»Das da und das da.« Sie deutete mit dem Finger darauf. »Sie sind erst seit ein paar ... Stunden hier.«
Er sah unter seinen zusammengewachsenen Brauen zu ihr auf. »Ich weiß schon. Acht und vier und eins. Was willst du machen?«
»Sie kennzeichnen.«
Grunzend beugte er sich wieder über seine Schnitzarbeit. Chloe trug ihre Granatapfelschalen ans Wasser und öffnete ein kleines Fläschchen mit Sesamöl, das sie gegen ihr Knochenmesser eingetauscht hatte. Mit Blök- und Mählauten lockte sie ihre Herde herbei und trieb die Tiere dann ans Wasser, um sie zu kennzeichnen. Als sie schließlich wieder durch das Tor und über die Hauptstraße in die stille Gasse eilte, in der Ningal lebte, dämmerte es bereits. Die Menschen hatten Feuer auf den Straßen entzündet, vor denen sie ihre Speisen verzehrten und sich unter freiem Himmel die Zeit vertrieben.
Sie haben kein Heim, dachte sie. Wäre Ningal nicht gewesen, hätte sie sich zu ihnen legen und zusammengerollt im Straßendreck schlafen müssen.
Kalam öffnete ihr die Tür. Seine Augen wanderten über ihre knallgelben Handflächen und die Dreckflecken auf ihren Knien und ihrer Brust. »Es ist noch Wasser in der Wanne«, sagte er.
»Danke«, antwortete sie und eilte durch den Hof in ihren Raum.
Als sie - zum zweiten Mal - aus der Wanne trat, klopfte jemand an die Tür. »Herein«, sagte sie.
»Die Händler erwarten euch«, sagte ein Mädchen.
Chloe hob ihren Rock vom Boden auf, entschied sich dann aber für ein sauberes Laken, mit dem sie ihren Körper abtrock-nen konnte. Dann wanderte sie dem Mädchen hinterher in einen hell erleuchteten Raum. Dort saßen die Menschen, die Kalam hergebracht hatte, und warteten auf sie.
Stoffe und Armreifen, Fläschchen und Bürsten lagen ausgebreitet vor ihren Augen. Sie hielt die Tafel mit ihren Schafen in der Hand, aber sie hatte nichts mehr zum Tauschen übrig. Als sie kurz über die Schulter blickte, sah sie Kalam in der Tür stehen. Er studierte die Einkerbungen auf einer Tafel ähnlich der ihren. Die Handwerker sagten kein Wort, doch sie beobachteten genau, wie Chloe ihre Waren musterte. Schließlich huschte sie zu Kalam hinüber. »Verzeih, aber ... ich habe nichts, womit ich diese Sachen bezahlen könnte.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte er, ohne aufzuschauen.
»Das muss ich aber«, widersprach sie. »Meine Herde ist mir zu viel wert -«
»Wenn du nicht allzu sehr an der Guf -Bespannung hängst, die du mitgebracht hast, würde Richter Ningal sie dir abkaufen.«
Sie wandte den Händlern den Rücken zu und flüsterte Kalam zu: »Ich weiß nicht, was die Dinge kosten.«
Sein Blick flog über die im Raum ausgebreiteten Schätze. »Für die Guf-Haut kannst du all das und fünf Schafe dazu kaufen, außerdem deine Steuern bezahlen und monatelang fürstlich speisen.«
»Für eine einzige Haut?« Doch im selben Moment fiel ihr ein, dass man für eine Guf-Bespannung die Haut von mindestens vier Ochsen brauchte, die erst gegerbt und gewalkt, dann zusammengenäht und schließlich mit Asphalt wasserdicht gemacht werden musste.
Eine solche Bespannung war unverzichtbar für jeden, der auf dem Fluss in Richtung Süden fahren wollte, denn man brauchte nur einen Holzrahmen zu bauen und ihn mit der Guf zu überziehen, und schon hatte man ein schnelles Transportmittel. Hatte man sein Ziel im Süden erreicht, zog man die Haut wieder ab, verkaufte das Holz, das dort dringend benötigt wurde, und faltete die Guf bis zur nächsten Reise zusammen. Eine Guf wurde oft als Erbe oder Hochzeitsgeschenk innerhalb einer Familie weitergegeben. »Natürlich«, sagte sie und wandte sich wieder den angebotenen Waren zu.
Stoff, als Filz oder Vlies, gewoben und eingefasst; Schmuck, darunter auch Armreifen, wie die Hindus sie trugen; Sandalen aus Leder oder Palmwedeln; Töpfe mit Schwarz für die Augen und Rot für die Lippen, dazu Antimon für die Lider; Öle und Düfte für Haar und Körper, Umhänge, Haarnadeln, Ohrringe. Und all das konnte ihr gehören?
Noch während ihr Blick über die Reichtümer wanderte, trat Kalam an ihre Seite. »Vielleicht nimmst du einfach alles«, sagte er. »In den nächsten Wochen wirst du kaum mehr zum Einkaufen kommen, und du möchtest bestimmt einen guten Eindruck machen. Natürlich wirst du dir später, wenn du dich
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