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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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Augen waren schön anzusehen, die Augen und auch ihre Hände. Bei ihrem Gespräch – es war wirklich ein Gespräch, denn dazwischen gab sie einige verständnisvolle Kommentare ab – machten alle zehn Finger eifrig mit. Sie hoben sich von der Tischplatte hoch, rangen miteinander, um sich zu guter Letzt, wenn der Gedanke zu Ende geführt war, befriedigt wieder hinzulegen.
    »Ich wusste es«, sagte sie dann, nachdenklich.
    »Was wusstest du?«
    Sie waren, in diesem Moment oder schon früher, zum Du übergegangen. Beinahe hätte er eine der Flatterhände ergriffen, wie man einen zarten Vogel fängt. Nur, dass er natürlich niemals einen Vogel fangen würde, schon gar nicht in einem Café in der Innenstadt, also ließ er es bleiben.
    »Dass du interessant bist, und traurig.«
    Wow, dachte er. Sie will mit mir schlafen. Doch bevor ihm eine Replik eingefallen war, die sie auf diesem erfreulichen Weg noch ein Stückchen voranbrachte, sprach sie weiter: »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe es meiner Freundin erzählt …«
    »Freundin?«, dachte er – aus Versehen laut.
    »Ja, meine Lebensgefährtin. Freundin, richtig?«
    »Richtig.«
    Klar, sie war eine Lesbe. Es wäre auch zu schön gewesen. Enttäuscht, das war er. Aber immer noch hellwach. Er stellte sich vor, wie die tolle Rothaarige, die eben mit einem Stapel Zeitungen hereingekommen war, auf sie zu käme und sie auf den Mund küsste. Er hatte vergessen, dass dies hier kein Traum war.
    »Und du hast uns beiden doch sehr leid getan.«
    Nein, kein Traum. Die Szene mit den beiden Frauen löste sich in Luft auf. Na super. Eine Lesbe, die aussah wie Audrey Hepburn mit Titten, hatte Mitleid mit ihm. Er seufzte. Deshalb war sie auch die ganze Zeit so herrlich normal, so waren Frauen sonst nicht, so – kumpelhaft.
    »Du musst nicht so seufzen!«
    Sie lachten gemeinsam, und er versöhnte sich mit dem Istzustand. Blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Und sie war eine gute Zuhörerin.
    »Ich möchte neu anfangen«, hörte er sich sagen, »ohne sie.«
    Sie überlegte. Dann sagte sie: »Du willst neu anfangen? Ganz neu?«
    Dass sie so verträumt aussah, regte ihn an fortzufahren: »Ja, ganz neu – als spazierte man auf einer makellos frischen Schneedecke.«
    »Hm«, machte sie.
    »Du weißt schon, wenn über Nacht das erste Mal … alles ist ganz rein, unbefleckt …« Er stockte und wurde rot.
    Sie sah ihn ernst an. »Ich verstehe schon. Aber, sieh mal, das ist eine sehr männliche Sichtweise. Ich sage jetzt bewusst nicht patriarchalisch .«
    Er schwieg. So froh er war, dass sie ihn nicht auslachte, so bedauerlich war auch, wie wenig sie ihn verstand, wenn es nun wirklich um etwas ging.
    Sie hob die Stimme, wurde fast ein wenig laut: »Denn: Wie lange hält das an, diese Reinheit – bis zum ersten Schritt, oder? Das ist nicht lange. Und dann? Macht es dann keinen Spaß mehr, hindurchzugehen?«
    »Doch«, gab er zu. »Nur ist die Ehe mit Luisa eigentlich gar keine Schneedecke.«
    Sie zucke die Achseln: »Wer weiß.«
    Er wusste nicht, ob sie philosophisch klang, weil Deutsch ihre Zweitsprache war, oder ob er dermaßen gierig nach einem Rat war, dass er alles als solchen aufnahm.
    Er beschloss, sich darauf einzulassen: »Was meinst du? Stimmt irgendwas nicht mit mir?«
    »Nein, ich glaube nicht – du bist bloß ein bisschen durcheinander, was deine Gefühle angeht.«
    »Du meinst, ich bin ein Idiot.«
    »Durcheinander. Heutzutage dürfen auch Männer durcheinander sein, habe ich in einer Illustrierten gelesen.«
    Er wartete.
    »Natürlich wirfst du es dir innerlich vor, dass diese Ehe gescheitert ist. Du gibst dir die Schuld, und diese Verkaufssache materialisiert das nur.«
    Er war nicht überzeugt, und man sah es ihm an.
    Sie hob die Hand, wieder flatterten die Finger beredt: »Ich weiß, dass du widersprechen willst. Schuld ist natürlich in Mitteleuropa eigentlich kein Gefühl, sondern ein Lebensstil. Die Gesellschaft entwickelt und konsumiert ihre Schuld wie eine angenehm betäubende Droge, wie das Feierabendbier gibt es die Feierabendschuld. Und du musst nicht mal weit gehen, mach den Fernseher an, geh an einem Bettler vorbei. Schuld fließt überall um uns herum. Aber manchmal spürt jemand tatsächlich Schuld, weil er schuldig geworden ist. In deinem Fall kann ich das nicht beurteilen. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Du fühlst dich jedenfalls massiv schuldig. Aber diese Schuld ist nicht sichtbar, und deshalb hast du etwas getan, was es sichtbar

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