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Die Häuser der anderen

Die Häuser der anderen

Titel: Die Häuser der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Scheuermann
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mindestens eine Dreiviertelstunde bis zum Cliff’s, und Anne hasste es, alleine in Bars zu warten. Also konnte sie sich genauso gut vernünftig anziehen; einer Stadt wie dieser war man das einfach schuldig.
    Sie stakste die unendlich lange Bleecker Street entlang und versuchte, nicht an Tante Luisa zu denken, daran, wie viel Uhr es jetzt bei ihr war – gegen ein Uhr mittags –, was sie gerade machte – war sie beim Arzt? Hatte sie Benno schon ausgeführt? Es hatte sich immer viel um Benno gedreht bei den beiden, und nicht nur bei ihnen: In der ganzen schönen reichen Straße Am Kuhlmühlgraben waren die Hunde die Zentralgestirne in den Tagesabläufen ihrer Bewohner. Armer Benno, wenn Luisa sich schonen musste. Anne hatte die schlechte Nachricht von ihrer Mutter erhalten, und sie war nicht geistesgegenwärtig genug gewesen, auch nur irgendeine Frage zu stellen. Was bedeutete Frühstadium – war also alles noch nicht so schlimm? Musste sich Luisa eine Brust abnehmen lassen? Anne schüttelte sich. Sie ging schneller; es war dunkel und schneidend kalt, einzelne Schneeflocken tanzten im Licht der Laternen, die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos holten Stücke grauer und rötlicher Hausfassaden ans Licht. Passanten im für die Stadt typischen hastenden Laufschritt waren zu sehen; Anne fand immer, dass sie den Raum vor sich eher besiegten, als dass sie ihn durchquerten. Sie bemerkte den unglücklich dreinblickenden Bobtail mit Schnee auf der Nase und die leere Plastiktüte, die im Wind umherwehte; die Tüte erinnerte sie an ein Gedicht, das Rebecca ihr neulich vorgelesen hatte, weil es von einem jungen deutschen Autor war und Rebecca anscheinend glaubte, Deutschland wäre so klein, dass sich alle dort kannten – Anne hatte den Namen des Dichters sofort wieder vergessen, nicht aber die Zeilen. »Leere Plastiktüte, taumelnd im Wind«, es lautete an einer Stelle: Niemals wissen wir, wo wir sind, Auf einer Waldstrecke auf der Erde im Wind , und dann: »Hier« ist die tödliche Vokabel . Hier ist die tödliche Vokabel – das hatte Anne beeindruckt, wie sie sonst nur Gemälde beeindruckten. Hier ist die göttliche Vokabel; Krebs ist die tödliche Vokabel – spann Anne in Gedanken weiter. Sie wurde von einem Mann in Schwarz überholt, der wie ein Schatten vorbeiglitt; als trüge er ein böses Geheimnis, dachte Anne schaudernd. Sie zog die Schultern zusammen und sagte sich, dass alles wie immer war, aber es dauerte noch ein paar Blocks, bis sie sich wieder als zugehörig empfand zu der Stadt – »hier« war die göttliche Vokabel .
    So seltsam es klang, aber sie war der Stadt gegenüber vor allem eines: dankbar. Als sie Rebecca das gestanden hatte, hatte die gelacht und gesagt, das sei vollkommen unnötig, denn die Stadt habe ihr umgekehrt ja nichts geschenkt. Städte machten keine Geschenke, sondern nur die Bewohner: Das sei sonst ein Anthropomorphismus, das jedenfalls würde ihr Literaturtutor sagen. Anne hatte leicht säuerlich entgegnet, sie schreibe ja keine Short Story, sondern erzähle lediglich von einem Gefühl, und dieses Gefühl habe sie eben nicht irgendwelchen Leuten gegenüber. Aber sie war der Freundin nicht böse gewesen, Becky meinte es nicht so; sie war einfach gerade im Fachwortfieber und gab mit ihrem neu erworbenen Wissen gerne ein wenig an.
    Im Übrigen war Anne New York weiterhin dankbar. Sie fand, sie habe sich in dem knappen Jahr, in dem sie hier war, grundlegend verändert. Es war nicht nur, dass sie gelernt hatte, ihr größtes Handicap, ihre Schüchternheit, zu überwinden oder sie zumindest hinter einem ausdauernden Lächeln zu verstecken. Dass sie sich Schüchternheit hier einfach nicht leisten konnte, hatte sie schnell begriffen. Man war gezwungen, Fragen zu stellen, auch unbequeme, sonst bekam man keine Wohnung, wusste nicht, wohin das Seminar verlegt worden war, wie dieses oder jenes Formular ausgefüllt werden musste. Abgesehen von diesem Fortschritt fand sie ihr Leben zum ersten Mal aufregend, New York schenkte ihr allein durch sein Dasein permanent etwas: Es war eine Tatsache, dass hier alles, wirklich alles eine Bedeutung bekam durch den Schauplatz, an dem es geschah. Ob man nun ein Apartment bewohnte (meine Güte, fast jeder Student tat das – aber eben nicht in Manhattan) oder schwimmen ging – Zustände und Tätigkeiten wurden allein durch den Ort geadelt. Wie oft erinnerte sich Anne daran, wie eine Freundin ihrer Mutter, auch so eine überspannte Malerin, einmal eine

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