Die halbe Sonne
diesen Jahren auf der Strecke geblieben ist, und spürt sein Herz anschwellen und brennen. Mehr als ihm lieb ist.
Als die Mutter nach der Siesta erwacht, hat er den Essenstisch mit Kerzen, Kristallgläsern und dem feinsten Besteck gedeckt – obwohl es erst halb sechs ist und die Sonne sticht. Als sie aus dem Schlafzimmer herunterkommt, bindet er sich gerade die Krawatte um. Warum sollen sie nicht feiern, dass fünfzig Jahre, zehn Monate, drei Tage, achtzehn, nein, neunzehn Stunden und eine Reihe ungezählter Minuten vergangen sind, seit er jemanden an die Tür seines Zimmers in Wien klopfen hörte und eine der Kunststudentinnen, die gerade bei seinem Bruder zu Besuch waren, erklärte, sie habe gehört, der Medizinstudent möge Rilke, und nun wolle sie fragen, ob dies wahr sei?
Als sich die Mutter setzt, denkt der Vater, dass sie fast alles aufgegeben hat. Aber niemals die Waage, die sie offenbar schon in sich trug, als sie sich das erste Mal begegneten. Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Nicht dass er begreifen würde, wie sie das anstellt, aber irgendwie gelingt es ihr nach wie vor, es so einzurichten, dass sich beide Schalen die Waage halten.
Fünf Faden tief
Als der Sohn zum ersten Mal die Zahnprothese sieht, ist er wie verzaubert. Sie schwebt in einem halbvollen Wasserglas, gleichsam eine Nummer zu groß, knochenweiß und rosa wie Blütenblätter. Er studiert die dritten Zähne des Vaters wie andere den Inhalt von Reliquiaren. Mit ebenso viel Verblüffung wie Zweifel, Überraschung wie Protest. Vor allem jedoch: mit wachsendem Glauben. Was immer das sein mag, so hat es doch existiert – und existiert offensichtlich noch immer. Das Glas auf dem Nachttisch enthält ein uraltes marines Wesen, das leicht angewinkelt zum Universum schimmert. Bedarf es mehr, um eine Kirche zu stiften? Wachsendes Staunen und eine Schöpfkelle Meerestiefe, Relikt aus einer früheren Epoche der Evolution und das Gefühl zarten, hartnäckigen Lebens?
Der Vater sitzt auf der Bettkante. Zerknitterter Pyjama, eingefallene Wangen. Sucht mit den Füßen nach seinen Pantoffeln, wird unerwartet schüchtern, als er den ersten Proselyten sieht.
Kein Mensch ist eine Insel
Im letzten Jahr, in dem der Vater noch gehen kann, ohne betreut werden zu müssen, teilt er seiner Gattin mit, dass er im Park auf der anderen Straßenseite spazieren gehen möchte. Im Winter wohnen die beiden in Athen, und er flaniert gerne zwischen den Pinienbäumen und Platanen gegenüber. Seine Frau bereitet gerade das Mittagessen vor. Erst als sie den Tisch deckt, wird ihr bewusst, dass er nicht zurückgekehrt ist. Hastig streift sie sich den Mantel über und verlässt das Haus. Eine Stunde braucht sie, um ihn zu finden. Das Dopamin wirkt nicht mehr. Schweißgebadet und verwirrt steht der Vater auf einer Verkehrsinsel mitten in einer der meistbefahrenen Avenuen. Und weiß weder vor noch zurück.
Intermezzo
EIN SOHN : Es geht schleppend voran, aber ich habe vor, mich zurückzuarbeiten. Jedes neue Tableau wird ein Schritt – ein Jahr, ein Atemzug – zurück zu der Zeit, bevor du Papa wurdest. Das Ende wird dein Anfang sein. Dies ist ein Rückwärtsgesang.
DER GESTERBTE : Wozu soll das gut sein?
EIN SOHN : Ich will dich doch retten! Dich zu einem Menschen machen, der nicht Papa ist und deshalb auch nicht als Papa sterben kann.
DER GESTERBTE : Aber ich will Papa sein. Es gibt nichts Besseres.
Besser!
Im Gegensatz zum gesitteten, praktisch fehlerfreien Schwedisch der Mutter ist das des Vaters überbordend und unsicher, aber auch einfallsreicher. Er mag Synonyme, amüsiert sich dabei, bildliche Ausdrücke wörtlich zu nehmen und glänzt mit der Zeit in einem Idiom, das seinen Kollegen in den Ohren weh tun muss. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Häufig benutzt er Kraftausdrücke, die er direkt aus dem Griechischen importiert. Ein solcher lautet »Du schwellst mir den Hoden!«. Die Phrase sagt im Grunde alles über seine Einstellung zur neuen Sprache. Schwedisch zu sprechen bedeutet, seinen Willen zur Steigerung, zur Expansion Ausdruck zu geben. Vielleicht sollte der Sohn sagen: zur Erhebung. Aber er zieht es vor, von Unbeugsamkeit zu sprechen. Der Vater versteht nie, dass es auch Vorteile haben kann, Maß zu halten.
Wenn der Sohn in späteren Jahren anruft, um sich zu erkundigen, wie es ihm geht, erfährt er: »Besser!« Die Antwort ist eine Erinnerung daran, dass der Vater nicht aufgibt. Letztlich geht es ihm immer besser, ohne dass er jemals
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