Die halbe Sonne
mit doppelten Zahnreihen oder die herzzerreißend ausweglosen Situationen, in die er gerät, die ihn am härtesten treffen. Am schlimmsten sind die Träume, in denen seine Nächsten und Liebsten ihn in einem Gefühl des Einvernehmens wiegen – nur um ihn zu verletzen, wenn er am empfindlichsten ist, und ihm ihr wahres, perfides Ich zu zeigen. Danach dauert es viele Stunden, die Reste verzerrten Bewusstseins abzuschütteln. Eine alarmierende Situation. Die Feuersbrünste und Hunde mit drei Köpfen wandern schließlich nie ins wache Leben ein. Bei den Zweifeln an seiner nächsten Umgebung sieht die Sache dagegen anders aus. Wie kann er sein Vertrauen davor schützen, infiziert zu werden? Ist es vielleicht besser, nicht alle Medikamente zu nehmen? Kann man so viele Götter anbeten, ohne mit Repressalien rechnen zu müssen?
Zur Frage der Auslandsvertretungen
Der Vater, dem es so leicht fällt, sich auf fremde Menschen einzulassen, kann nie den Hörer abheben, wenn daheim das Telefon klingelt. Dort ist es die Aufgabe der Kinder, sich zu melden – und sie tun es auf immer gleiche Weise: »Ich schaue mal nach. Mit wem spreche ich bitte?« Es ist nicht weiter schwierig zu verstehen, woher sein Widerwille rührt. Klingelnde Telefone bedeuten Forderungen von außen, denen er sich unterwerfen muss. Im schlimmsten Fall sind es Behörden, die sich bei ihm melden, in weniger schlimmen Fällen fordernde Kollegen. Auch Bekannte scheinen sich zu verändern und ein Anliegen zu haben, sobald er sich zu Hause aufhält. Ganz zu schweigen von den Verwandten, für die er sonst nie genug tun kann. Das Telefon verwandelt sich in eine fremde Botschaft, die sich weder besänftigen noch ignorieren lässt. Hier gilt nicht einmal die eigene Jurisdiktion. Die Kinder werden als Diplomaten vorgeschickt, gut gedrillt in Verbindlichkeit und der Sorte Vokabular, die alles und nichts bedeuten kann.
Auch lange nachdem schwedische Institute die Visitenkarte des Vaters aus ihren Rolodex entfernt haben, vermeidet er es, selbst ans Telefon zu gehen. Nun muss die Mutter die Rolle einer Regierungssprecherin übernehmen, um ihm, falls nötig, den Rücken freizuhalten. Ihre Fähigkeit, mit einer freundlichen Floskel auf die Person am anderen Ende der Leitung einzugehen und gleichzeitig ihrem heimlichen Publikum zu verraten, wer anruft, ist eine Kunst der höheren Schule. Manchmal dirigiert ihr Gatte das Gespräch mit Gesten und Mienen, bisweilen wird ein späteres Dementi erforderlich. Meistens kann er sich jedoch nicht beherrschen und reißt ihr den Hörer aus der Hand. Denn mit den Jahren ist der Anrufer immer öfter eines seiner Kinder, und dann nimmt er es mit der Illusion nicht mehr so genau. Enthusiastisch bricht er mit der Fiktion, zeitweilig nicht erreichbar zu sein. Der Apparat verwandelt sich in eine Telefonzentrale. Plötzlich ist es nicht mehr die Umwelt, die eindringt, stattdessen soll nun das eigene Territorium ausgeweitet werden. Pläne müssen geschmiedet, Depeschen überbracht werden. Die Weltherrschaft steht vor der Tür.
Dekreation
Nach dem Unfall, als die Lebensuhr des Vaters eigentlich bereits abgelaufen ist, wiegt er siebzig Kilo. Er ist dünn und struppig, gleichermaßen Herbariumpflanze und Leib aus Fleisch und Blut, wie er dort kissengestützt in seinem Krankenhausbett liegt. Wachsgelb und willenlos ruht die rechte Hand auf der Decke. Als der Sohn über die fast verwischten Leberflecken und die Finger mit ihren geriffelten Nägeln streicht, denkt er, der Körper wird allmählich zurückgebildet. So stellt er sich ein paar Evolutionsschritte entfernte Fischflossen vor.
In den Monaten vor seinem Sturz wiegt der Vater fünfundsiebzig Kilo. Der Hemdkragen und die neuen Löcher im Gürtel verraten jedoch, dass dieses ranke Profil jüngeren Datums ist. Seine Art, sich die Serviette auf den Bauch zu legen, zeigt, wie sehr er gewöhnt ist, dass das Essen auf etwas anderes fällt als auf den Teller. Von diesen wohlgenährten Tagen ist vor dem Sturz auf der Kellertreppe nicht viel geblieben. Vielleicht nur eins. Der Kopf. Obwohl der Vater mehrere Kilo abgenommen hat, ist die Fülle nicht aus seinem Gesicht gewichen. Es gibt in ihm eine weiche Fleischigkeit in den Wangen, eine empfindliche, aber brutale Sinnlichkeit in den Lippen, die erst in den letzten Wochen auf der Pflegestation verschwinden. Da schießen die Knochen hoch, und die Haut auf den Wangen spannt, erblasst und rötet sich zugleich. Wenn der Sohn ihn sieht, denkt er nicht
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