Die halbe Sonne
Pfirsichfleisch in den Worten, die sie ausspricht: »Ärmster, du Ärmster ...«
Franz Hitler
Mitte der neunziger Jahre wird die Diagnose gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hat das geschulte Auge des Vaters die Symptome bereits gedeutet. Einige Jahre versucht er, die Krankheit vor Angehörigen und Bekannten zu verbergen. Nur seine Frau ist eingeweiht. Als der Name schließlich fällt, ist es dennoch, als würde endlich ausgesprochen, was alle ahnten. Im Laufe der Zeit hat das Geheimnis aufgehört, eines zu sein. Erleichterung breitet sich aus, nun kann man handeln.
Auch wenn ständig diskutiert wird, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, und sich alle anbieten, die Lebenssituation zu erleichtern, die sich am Horizont abzeichnet, wird die Mutter die Hauptverantwortung schultern müssen. Ihr Mann blättert in der Roten Liste, scheint mit den Beschreibungen darin jedoch nur selten einverstanden zu sein, während sie konkrete Informationen bei Spezialisten einholt und nach und nach alles über Nebenwirkungen und Krankheitsverläufe lernt. Sie stellt Tablettenschemata auf, kümmert sich um die richtige Ernährung und löchert die Neurologen mit einem Strom von Fragen. In den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens ist sie nicht nur Ehefrau und Sekretärin, sondern auch Krankenschwester. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche kreist das Dasein um ihren Mann. Tagsüber hilft sie ihm aufzustehen, rasiert ihn, wäscht ihn und zieht ihn an, kocht, surft im Internet, um die neuesten Forschungsergebnisse zu erfahren, hält Kontakt zu Freunden und Bekannten, versorgt ihn mit Zeitungen und Büchern, Papier, Stiften und Ordnern, kontrolliert Puls und Blutdruck, erinnert ihn an seine Tabletten, ruft die Kinder an, bügelt seine Hemden und wienert seine Schuhe, putzt die ewig verschmierte Brille, befestigt das Küchenhandtuch mit Wäscheklammern am Hemdkragen, wenn er essen soll, zerdrückt das Essen, füttert ihn ...
Und in den Nächten wechselt sie die Laken. Häufig mehrmals.
Wenn die Mutter nach der Siesta Tee und Zwieback serviert, die Kissen im Rücken zurechtrückt und Sorge trägt, dass der Vater seine Pulvergötter schluckt, schüttelt er mitleidig den Kopf, während sie um ihn herum für Ordnung sorgt: »Hitler, Hitler.«
»Michael ...«, sagt sie warnend, als sie mit benutztem Geschirr hinausgeht.
»Franzl«, fügt er hinzu. Lächelnd.
Der Schwerpunkt
Wenn der Vater seine Frau mit Tassen und Untertellern hantieren sieht, kann er sich scherzhafte Bemerkungen nicht verkneifen. Beide wissen jedoch, dass sie zärtlich gemeint sind. Als ihre Ehe noch jung war, mochte die Mutter diese verdrehten Bekundungen seiner Zuneigung nicht. Gab es keine direktere, weniger schmälernde Art, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen? Die Formulierungen hatten so wenig mit der Person zu tun, die er, wie sie doch wusste, eigentlich war. Im Laufe der Jahre hat sie jedoch gelernt, dass ihr Mann es nicht böse meint. Oder nicht anders kann. Mittlerweile liest sie ihn wie ein offenes Buch, dennoch überrascht es sie, wie erfinderisch er ist. Wenn er in seiner eigenwilligen Sprache nicht meint, dass sie an die Gardinen klettert, findet er, dass sie eine Uhrmacherwerkstatt eröffnen sollte, so präzise, wie sie alles handhabt. Sie weiß, dass seine Übertreibungen in die eine Richtung auf ihre Zuverlässigkeit in der anderen reagieren. Wenn er sie »Hitler« nennt, preist er ihre Fürsorglichkeit. Wenn er meint, dass sie Kies im Herzen hat, deutet er an, sie solle nicht traurig sein. Sogar an Tagen, an denen eine Wolke ihr Leben verdüstert, spürt sie die Wärme in seinem Inneren. Die Bekundungen ihres Mannes sind nicht nur umgekehrte Formen von Wertschätzung, sondern erfinden ihre Beziehung neu.
Sechs Jahrzehnte lang schenken seine Zärtlichkeitsbeweise der Mutter die Gewissheit, dass sich das Gleichgewicht herstellen lässt. Als Haus mag ihr Mann das höhere sein, aber sie hat die größere Breite. So finden sie dort einen Schwerpunkt, wo sie ihn in ihrem Heim haben möchte: auf Höhe des Türschlosses.
Waagschalen
Wenn der Vater nachdenklich wird, wiegt er Gewinne und Verluste gegeneinander auf und erkennt, dass seine Frau im Laufe der Jahre einiges aufgegeben hat:
1 Heimatland
1 vielversprechende Karriere als Künstlerin
1 feste Anstellung
1 frisch eingerichtetes Atelier
10–15 Wohnsitze
1 Galerie
1 neues Heimatland
Zum Beispiel. Der Vater denkt auch an so manches Versprechen, so manches Vertrauen, das in
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