Die Hassliste: Roman (German Edition)
fragte eine von ihnen.
Ich ging ein paar Schritte auf sie zu. »Das Mädchen, das versucht hat, sich umzubringen. Du hast gesagt, dass sie Ginny hieß oder so. War es Ginny Baker?«
Sie schnippte mit den Fingern. »Ja, genau, das ist sie. Kennst du sie?«
»Ja«, sagte ich. Ich rannte zurück zu meinem Schließfach und stopfte meine Bücher hinein. Dann knallte ich die Tür zu und steuerte am Sekretariat vorbei in das Büro von Mrs Tate, die erschrocken von einem Buch aufsah.
»Ich hab gerade von Ginny gehört«, sagte ich außer Atem. »Können Sie mich ins Krankenhaus fahren?«
Ich musste mir in die Handflächen beißen, als ich im vierten Stock aus dem Aufzug stieg und den Vorraum der psychiatrischen Abteilung im Kreiskrankenhaus betrat. Mir war übel, es kam mir so vor, als würde beim geringsten Fehler meinerseits gleich jemand um die Ecke schießen, mich packen und zurück in mein altes Zimmer bringen. Dort müsste ich dann bleiben und wäre verpflichtet, wieder an diesen verrückten Gruppensitzungen teilzunehmen und mir jeden Tag Dr. Dentleys Müll anzuhören: »Lass mich deine Äußerungen wiederholen, Valerie. Ich möchte dich auf diese Art bestätigen.«
Ich ging zum Schwesternzimmer. Eine Krankenschwester mit borstigen Haaren sah zu mir hoch. Überrascht stellte ich fest, dass ich sie nicht kannte, was entweder bedeutete, dass ich in meiner Zeit hier zu benebelt und zu dumm gewesen war, um mir ihr Gesicht zu merken, oder dass sie neu war. Weil sie mich auch nicht wiederzuerkennen schien, musste es wohl Letzteres sein.
»Ja bitte?«, fragte sie mit diesem abgekämpften undmisstrauischen Gesichtsausdruck, den alle Psychiatrieschwestern haben – als wollte ich einem ihrer Patienten beim Abhauen helfen und ihr ernsthaft den Tag verderben.
»Ich möchte zu Ginny Baker«, sagte ich.
»Gehören Sie zur Familie?«, fragte die Schwester. Sie stöberte weiter in irgendwelchen Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.
»Ich bin ihre Halbschwester«, log ich und war selbst überrascht, wie glatt mir das über die Lippen kam.
Sie sah von ihrem Papierkram hoch und warf mir einen kurzen Blick zu. Offensichtlich glaubte sie mir keine Sekunde lang, dass ich Ginnys Halbschwester war, aber was konnte sie schon tun – einen DN A-Test verlangen? Sie seufzte, wies mit dem Kopf über ihre Schulter und sagte: »421, da drüben auf der linken Seite.«
Sie wandte sich wieder ihren Unterlagen zu und ich schlurfte an ihrem Tisch vorbei den Gang entlang. Inständig betete ich, dass mir niemand begegnete, dem sofort klar wäre, dass ich nicht zur Familie gehörte. Vor allem Dr. Dentley wollte ich auf keinen Fall sehen. Ich holte tief Luft und schlüpfte ins Zimmer Nummer 421, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Von Kissen gestützt saß Ginny im Bett, ihre Arme waren mit Infusionsflaschen und Monitoren verbunden. Abwesend starrte sie auf einen Fernsehbildschirm. Ein großer Styroporbecher mit einem gestreiften, biegsamen Strohhalm stand auf dem Nachttisch neben ihr. Ihre Mutter saß an ihrem Bett, auch sie blickte auf den Fernseher, wo irgendeine hochemotionale Talkshow lief. Sie redeten nicht miteinander und schienen sich beide schon länger nicht mehr die Haare gewaschen zu haben.
Mrs Baker sah als Erste auf, als ich das Zimmer betrat. Anspannung schlang sich wie ein Faden um ihren Körper, als ihr klar wurde, wer ich war, und ihr Mund öffnete sich ein winziges bisschen.
»Es tut mir leid, dass ich störe«, sagte ich. Zumindest glaube ich, dass ich das sagte. Meine Stimme war nur ein Piepsen.
Ginny sah mich an und ich zuckte zusammen. Es tat weh, direkt in ihr entstelltes Gesicht mit den verschobenen Wangenknochen und den zerfurchten Lippen zu blicken.
»Was willst du hier?«, nuschelte sie.
»Tut mir leid, dass ich störe«, wiederholte ich. »Ich möchte mit dir reden.«
Ginnys Mutter war aufgestanden und hatte sich hinter ihren Stuhl gestellt, fast als wollte sie sich dahinter verstecken. Es hätte mich auch nicht überrascht, wenn sie ihn gepackt und benutzt hätte, um auf mich loszugehen.
Ginnys Augen glitten hinüber zu ihrer Mutter und dann wieder zurück zu mir, aber keine der beiden sagte etwas. Ich ging ein paar Schritte weiter in das Zimmer hinein.
»Ich war in Zimmer 416«, erklärte ich. Ich hatte keine Ahnung, warum das wichtig für sie sein sollte, aber es fühlte sich irgendwie richtig an, als es aus meinem Mund kam. »Hier auf dieser Seite
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