Die Hassliste: Roman (German Edition)
vorgeschrieben, dass ich hier sein muss. Schwachsinn.«
»Ja«, sagte ich. »Selbstmörder müssen mindestens drei Tage drinbleiben oder so ähnlich. Aber meistens sind sie am Ende länger hier, weil ihre Eltern einen Koller kriegen. Hat deine Mom auch einen Koller gekriegt?«
Ginny stieß ein hämisches Lachen aus und putzte sich die Nase. »Die ist jenseits von Gut und Böse«, sagte sie. »Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
Eine Weile lang saßen wir einfach da und guckten aufden Fernseher, wo jetzt ein Boulevard-Magazin lief. Das Gesicht einer Teenager-Berühmtheit mit dunklen Haaren tauchte auf dem Bildschirm auf. Sie wirkte weder glamourös noch besonders glücklich. Eigentlich sah sie ganz normal aus. Ich fand sogar, dass sie ein bisschen Ähnlichkeit mit mir hatte.
»Als Nick hierhergezogen ist, waren wir Freunde«, brach Ginny aus dem Nichts das Schweigen. »Im ersten Highschooljahr haben wir fast alle Kurse zusammen gehabt.«
»Echt?« Nick hatte mir nie davon erzählt, dass er mal mit Ginny Baker befreundet gewesen war. »Das wusste ich nicht.«
Sie nickte. »Wir haben miteinander geredet, fast jeden Tag. Ich hab ihn gern gemocht. Er war echt schlau. Und nett war er auch. Das setzt mir am meisten zu. Er war echt nett.«
»Ich weiß«, sagte ich. Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass Ginny und ich unendlich viel gemeinsam hatten. Ich war nicht allein. Es gab noch jemanden. Noch jemanden, der das Gute in Nick sah. Obwohl ihr Gesicht zerstört war, sah sie es trotzdem.
Sie legte den Kopf zurück auf das Kissen und schloss die Augen. Tränen strömten unter ihren Lidern hervor und sie versuchte nicht einmal, sie wegzuwischen. Eine Weile lang saßen wir beide still da, bis ich mich irgendwann vorlehnte und ein Papiertaschentuch von ihrem Nachttisch nahm. Ich beugte mich zu ihr und berührte damit vorsichtig ihr Gesicht, direkt unter ihren geschlossenen Augen.
Sie zuckte ein bisschen, ließ die Augen aber zu undversuchte auch nicht, mich zum Aufhören zu bewegen. Langsam streichelte ich über ihre Wangen und wurde dabei immer mutiger, folgte den geschwungenen Linien ihrer Narben. Als ihr Gesicht vollständig getrocknet war, lehnte ich mich wieder im Stuhl zurück.
Sie begann wieder zu sprechen, ihre Stimme klang heiser. »Als ich am Ende vom Schuljahr dann mit Chris Summers zusammengekommen bin, hat mich Chris mal mit Nick reden sehen und ist komplett ausgerastet. Er war super eifersüchtig. Ich glaube, so hat alles angefangen. Wenn ich früher nicht mit Nick befreundet gewesen wäre, hätte Chris ihn wahrscheinlich in Ruhe gelassen. Er war immer so gemein zu Nick.«
»Ginny, ich …«, begann ich, aber sie schüttelte den Kopf.
»Ich musste aufhören, mit Nick zu reden. Es ging nicht anders, Chris hat einfach nicht lockergelassen.
Was willst du denn mit so einem Deppen?
«, versuchte sie Chris mit leiser Stimme nachzuahmen.
»Aber Chris war doch derjenige, der …«, sagte ich, aber wieder unterbrach sie mich.
»Ich denk nur immer wieder dran … wenn ich damals vielleicht nicht mit Nick befreundet gewesen wäre … oder wenn ich zu ihm gehalten und stattdessen Chris in die Wüste geschickt hätte … vielleicht wär dann der Amoklauf …« Sie verstummte und ihr Gesicht fiel in sich zusammen. »Und jetzt sind sie beide tot.«
Im Fernsehen ging es jetzt um irgendeinen Rapper, von dem ich noch nie gehört hatte. Er hatte eins von diesen gigantischen goldenen Dollarzeichen um den Hals und machte irgendein Handzeichen vor der Kamera. Ginnyöffnete die Augen, putzte sich die Nase und sah vage in Richtung Bildschirm.
»Es war nicht deine Schuld, Ginny«, sagte ich. »Du hast nichts mit der Sache zu tun. Und ich … mhm, es tut mir echt leid wegen Chris. Ich weiß, dass du ihn sehr gerngehabt hast.« Anders ausgedrückt: Ginny hatte auch das Gute in Chris gesehen. Was sie besser machte, als ich es war, denn ich hatte das nie gekonnt. Bedeutete das am Ende sogar, dass es mehr Gemeinsamkeiten zwischen Chris und Nick gab als Unterschiede? Waren beide durch eine Seite ihrer selbst gefesselt, die nicht ihre einzige war – und schon gar nicht ihre beste?
Ginny wandte ihre tränennassen Augen vom Bildschirm ab und sah mich jetzt direkt an. »Seit Nick mir das hier angetan hat, hab ich sterben wollen«, sagte sie und zeigte auf ihr Gesicht. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich schon operiert worden bin, und guck dir an, was es genützt hat. Vorher wollte ich allerdings
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