Die Hassliste: Roman (German Edition)
Rumgeklicke. Sie setzte ihre Brille ab und rieb sie am Saum ihresOberteils sauber. Dann setzte sie sie wieder auf und blinzelte. »Wie bitte?«
Ich deutete auf die Zeitung. »Was Sie da schreiben, ist nicht wahr. Es ist nicht so, wie Sie es in Ihren Artikeln darstellen. Sie sorgen dafür, dass alle glauben, wir kämen inzwischen wieder bestens klar und der Alltag in der Schule wäre ein einziges großes Fest der Liebe. Aber das stimmt alles nicht.«
Sie verdrehte die Augen. »Ich hab nie was von einem Fest der Liebe geschrieben.«
»Sie haben so getan, als wäre Ginny Baker nur eine verrückte Lebensmüde, die einfach nicht hinwegkommt über das, was passiert ist, während es allen andern inzwischen wieder gut geht«, sagte ich. »Aber das ist gelogen. Ich bin sicher, Sie haben nicht mal mit Ginny Baker geredet. Sie haben nie wirklich mit irgendwem geredet. Sie sprechen immer nur mit Mr Angerson und verbreiten genau die Lügen, die er verbreitet sehen will. Er hat Angst um seinen Job, darum sorgt er dafür, dass es sich anhört, als wäre alles wieder normal an der Schule.«
Auf die Ellbogen gestützt lehnte sie sich vor und sah mich mit einem frechen kleinen Grinsen an. »Aha, ich verbreite also Lügen weiter? Woher hast du denn deine Infos?«, fragte sie.
»Ich erlebe alles selbst«, sagte ich. »Ich bin jeden Tag in der Schule. Ich kriege mit, was die Leute einander immer noch antun. Ich kriege mit, dass Ginny Baker nicht die Einzige ist, die immer noch leidet. Und ich kriege mit, dass es einen riesigen Unterschied gibt zwischen dem, was Mr Angerson sieht, und dem, was er sehen will. Sie sind nie dort gewesen. Keinen einzigen Tag. Sie sind niebei mir zu Hause gewesen. Und auch nie bei einem Footballspiel oder einem Leichtathletik-Wettkampf oder einer Schulparty. Sie waren nie im Krankenhaus, um zu sehen, wie es Ginny geht.«
Sie stand auf. »Du hast ja keine Ahnung, wo ich überall gewesen bin.«
»Hören Sie auf zu schreiben«, sagte ich. »Schreiben Sie nicht mehr über uns. Über die Garvin-Highschool. Lassen Sie uns in Ruhe.«
»Ich werde gern über deinen Vorschlag nachdenken«, sagte sie in einem aufgesetzt freundlichen Singsang. »Aber du wirst nachvollziehen können, dass ich in erster Linie dem Herausgeber dieser Zeitung verpflichtet bin und in zweiter Linie auf dich höre.«
Jetzt erst fiel mir auf, wie klein und behäbig sie hinter ihrem Schreibtisch wirkte – diese Frau, die ich mir als eine unendlich einflussreiche Riesin vorgestellt hatte.
»Ich muss mit meiner Arbeit weitermachen«, sagte sie. »Falls es dir darum geht, dass Leute
die Wahrheit
zu lesen kriegen, solltest du am besten ein Buch schreiben. Ich arbeite nebenbei übrigens auch als Ghostwriterin, falls du Interesse hast.«
Und auf einmal war mir klar, dass die Geschichte, die Angerson verbreitet wissen wollte, genau die Geschichte war, die die Welt zu hören bekommen würde. Dass Angela Dash eine faule und schlechte Journalistin war und dass sie genau das schreiben würde, was er von ihr lesen wollte. Dass nie jemand die Wahrheit über unsere Schule erfahren würde. Und dass ich daran nichts ändern konnte.
Aber vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit.
Rasch ging ich nach draußen, wo Mom am Straßenrand auf mich wartete.
»Hast du gekriegt, was du brauchtest?«, fragte sie und musterte mich. »War die Recherche erfolgreich?«
»Ja, wohl schon«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe ganz genau bekommen, was ich brauchte.«
Es konnte gut sein, dass es zu spät war, um wieder bei dem Projekt vom Schülerrat einzusteigen, aber ich wollte es wenigstens versuchen. Bis zum Schuljahresende war es nur noch ein paar Wochen hin und ich wollte Jessica unbedingt von meinen Ideen für die Gedenkstätte erzählen.
Zögernd betrat ich Mrs Stones Zimmer. Ich rechnete damit, dass der gesamte Schülerrat hier sitzen würde, aber es war nur Jessica da, über einen Stapel Papiere gebeugt.
»Hey«, sagte ich von der Türöffnung her. Sie blickte auf. »Wo sind denn die andern? Ich hab gedacht, heute wäre ein Treffen.«
»Oh, hallo«, sagte sie. »Fällt aus. Mrs Stone hat die Grippe. Ich lern nur gerade für meine Abschlussarbeit in Mathe.« Sie rieb sich die Ellbogen und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wolltest du denn dabei sein? Ich hab gedacht, du hättest aufgehört.«
»Ich hab da eine Idee, wie man noch zusätzlich etwas machen könnte für die Gedenkstätte«, sagte ich, ging durchs Zimmer und setzte mich an den
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