Die heißen Kuesse der Revolution
traurig.
Der Federkiel lag nicht auf dem Tisch, sie suchte auf dem Fußboden. Da lag er, heruntergefallen. Sie hob ihn auf, doch die Spitze war abgebrochen und nicht mehr zu gebrauchen. Sie wollte eine Schublade aufziehen, um nach einer anderen Schreibfeder zu suchen.
Doch sie war verschlossen.
Was bewahrte er darin wohl auf? Vermutlich waren es irgendwelche Kriegsgeheimnisse.
Sie war froh, dass die Schublade abgeschlossen war. Sie wollte nicht schnüffeln. Julianne versuchte eine andere Schublade, die sich öffnen ließ. Darin befanden sich mehrere Federkiele und ein Packen Briefumschläge, mit einem schwarzen Band zusammengebunden.
Die entzückende Schrift auf dem obersten Umschlag gehörte eindeutig einer Frau.
Julianne erstarrte. Sie wusste sofort, dass sie einen Stapel Liebesbriefe vor sich hatte.
Sofort schob sie die Schublade zu. Diese Briefe durfte sie nicht lesen. Aber ihre Gedanken rasten. Hatte sie eine Rivalin? Oder waren diese Briefe alt?
Sie teilte das Bett mit ihm. Sie musste wissen, von wem diese Briefe waren und ob sie neu waren oder nicht.
Zitternd holte sie den Stapel aus der Schublade, streifte das Band ab und nahm sich den ersten Umschlag vor. Der Brief war von einer Nadine D’Archand.
Vor Überraschung konnte sie sich kaum noch bewegen. D’Archand . War das nicht die Emigrantenfamilie, deren Aufenthaltsort Marcel wissen wollte? War das überhaupt möglich? War d’Archand ein gewöhnlicher oder ein ungewöhnlicher Name? An so viel Zufall mochte sie nicht glauben.
Sie warf einen Blick über die Schulter, doch die Tür war noch zu. Sie öffnete den Umschlag, holte den Brief heraus und las ihn.
15. April, 1791
Mein liebster Dominic, ich weiß, wir haben uns gestern verabschiedet. Aber ich kann mir nicht helfen. Der Abend war wunderschön. Es war einfach perfekt, dass wir ihn vor meiner Reise nach Frankreich mit Deiner Mutter gemeinsam verbringen konnten. Ich hätte mit Dir bis zum Morgen durchtanzen können. Du weißt natürlich, dass Du ein hervorragender Tänzer bist und dass alle anderen Paare grün vor Neid waren?
Julianne wurde schlecht. Beinahe konnte sie Nadines fröhliches, warmes Lachen hören. Beinahe sah sie sie vor sich in ihrem Ballkleid, hübsch und glühend und so sehr verliebt. Die Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie las weiter.
Ich weiß, Du bist etwas besorgt über unseren Urlaub in Frankreich, aber ich vermisse die Heimat genau wie Deine Mutter. Am meisten vermisse ich Paris! Mein Liebster, es wird alles gut gehen, und wir werden zurück sein, bevor Du überhaupt merkst, dass wir weg waren! Vielen Dank für die Blumen und für die wunderschöne Brosche. Vielen Dank, Dominic, für diesen grandiosen Abend. Ich vermisse Dich jetzt schon.
Mit all meiner Liebe
Nadine
Julianne starrte den Brief an, doch sie war nicht in der Lage, die elegante Handschrift klar zu erkennen. Nadine hatte Dominic geliebt. Natürlich hatte sie das. Sie zweifelte nicht daran, dass Nadine eine schöne, nette, warmherzige Frau gewesen war. Hatte Dominic sie ebenfalls geliebt?
Liebst du sie noch jetzt?
Nein.
Doch plötzlich konnte Julianne ihm nicht mehr glauben. Er hatte sich in Cornwall als Charles Maurice ausgegeben. Lebte Nadines Familie jetzt in Cornwall? War Nadine in Cornwall?
Julianne faltete den Brief mit zitternden Fingern wieder zusammen. Sie rief sich in Erinnerung, dass der Brief mehr als zwei Jahre alt war. Sie versuchte, sich zu beruhigen. Warum sollte er behaupten, Nadine sei tot, wenn sie noch am Leben war? Es war entsetzlich zu hoffen, dass ein anderer Mensch tatsächlich tot war, aber sie hätte Dominic Paget nicht erlaubt, sich ihr zu nähern, wenn er sich einer anderen versprochen hätte. Sie schob den Brief zurück in den Umschlag und legte das Band wieder um den Stapel. Vor lauter Tränen konnte sie fast nichts sehen. Und draußen hörte sie Schritte.
Sie warf die Briefe in die Schublade und schob sie hastig zu. Als sie aufsprang, öffnete Dominic die Tür und erblickte sie. Seine Augen wurden groß.
Sie holte verzweifelt Luft.
Er kniff die Augen zusammen.
„Ich wollte gerade einen Brief an Tom schreiben“, sagte sie. Doch sogleich wurde ihr klar, dass sie besser gar nichts gesagt hätte.
„Ich verstehe.“ Er blieb ganz ruhig, in seinem Gesicht war rein gar nichts zu lesen.
Sie biss sich auf die Lippen. „Ich habe nach einem Federkiel gesucht.“ Sie unterbrach sich, als ihr ihr eigener Fehler klar wurde. Noch nie im Leben war sie so nervös
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