Die heißen Kuesse der Revolution
Château steht noch, und die Weinberge sehen gut aus.“
„Steht noch“, wiederholte sie leise, „sie werden unsere Heimat vergewaltigen, Dominic.“
Er ergriff ihre Hand. In diesem Château war seine Mutter geboren worden. „Vielleicht nicht. Die Aufständischen in der Vendée sind im Augenblick sehr stark.“
Sie musterte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und umklammerte seine Hand. „Dominic. Du weißt es noch gar nicht, nicht wahr?“
„Was weiß ich noch nicht?“ Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sie wohl meinen mochte.
„Ich habe Neuigkeiten für dich, sehr gute Neuigkeiten.“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte. „Nadine ist am Leben.“
„Ich bin ja so glücklich, dass du diese Reise unternimmst“, sagte Amelia mit sanftem Lächeln. Sie saß auf ihrem Bett, das dem von Julianne gegenüber stand.
Julianne zögerte einen Moment, bevor sie ein weiteres Kleid zusammenfaltete und in den Reisekoffer legte, der aufgeklappt auf dem Bett lag. „Ich bin ganz aufgeregt“, gab sie zu und lächelte schmal, aber ehrlich. „Es ist ein ganzes Jahr her, seit ich zuletzt in der Stadt war.“
„Und ich bin aufgeregt, weil du aufgeregt bist.“
Julianne lächelte. Sie hatte schon immer London geliebt, obwohl die Stadt voller Widersprüche steckte. Sie dachte an die Menschenmengen, den Krach und die Geschäftigkeit, sogar an den gefährlichen, fast undurchdringlichen Verkehr von Abertausend Kutschen und den Gestank vieler Tonnen Pferdemist, die jeden Tag weggeräumt werden mussten (aber oft nicht wurden). Sie liebte die Bibliotheken und die Museen, und am allermeisten liebte sie die Klubs der Intellektuellen.
Hier trafen Menschen aller Gesellschaftsschichten aufeinander, von den Ärmsten der Armen bis zu den reichsten Lords, aber vor allem war London ein Magnet für Intellektuelle. In der Stadt wimmelte es nur so vor Dichtern und Schriftstellern, vor bildenden und darstellenden Künstlern, vor Philosophen und Professoren und natürlich auch vor Radikalen. An jedem Tag konnte Julianne eine Gesellschaft gleichgesinnter Männer und Frauen finden, die über gesellschaftliche Verbesserungen und Menschenrechte debattierten. Gestritten wurde um Getreideschutzgesetze und gegen den Freihandel, für oder gegen den Krieg gegen Frankreich, für oder gegen die Reform der Wahlbezirke. An jeder Straßenecke wurden Pamphlete verteilt, die für ein gleiches Stimmrecht für alle eintraten oder die die Zustände in den Erz-Minen beklagten. In der einen Straße flanierte sie an einem herrschaftlichen Palast nach dem anderen vorbei und bestaunte diamantbehängte Damen in seidenen Kleidern und Edelmänner in Samtmänteln, während sich gleich um die nächste Ecke die Ungewaschenen und Obdachlosen drängten. Ihre Kinder hielten die Röcke hoch und bettelten um einen Penny.
London war der aufregendste Ort, den Julianne jemals gesehen hatte.
„Was für ein Glück, dass Tom diese Versammlung in Edinburgh aufsuchen will. So kannst du mit ihm bis London reisen“, sagte Amelia.
In Wahrheit war es ein Glück, dass die Versammlung in London, die Julianne selbst besuchen wollte, eine Woche vor dem Treffen in Edinburgh war. Amelia kannte den eigentlichen Grund ihrer Reise nicht. Doch selbst wenn sie ihn gekannt hätte, dachte Julianne, sie hätte sie wohl trotzdem dazu ermutigt. So sehr lag Amelia ihr Seelenheil am Herzen.
Es war nun eine Woche her, seit sich der Earl of Bedford als Lügner und Spion entpuppt hatte und abgereist war. Für Julianne war es die schwerste Woche ihres Lebens gewesen. Sie fühlte sich so verletzt und verlassen. Der Schmerz war unerträglich.
Sie würde diesem Earl nie verzeihen.
Sie konnte an der Vergangenheit zwar nichts ändern, aber sie konnte ihre Erinnerungen beiseiteschieben und ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Sie wollte nicht zulassen, dass dieser Schuft noch größeren Schaden in ihrem Leben anrichtete, als er es ohnehin schon getan hatte.
Doch manchmal wachte Julianne mitten in der Nacht auf und verzehrte sich vor Sehnsucht nach Charles. In solchen Momenten musste sie sich wiederholt und mit Gewalt in Erinnerung rufen, dass der Mann, den sie liebte, gar nicht existierte.
Auch deshalb musste sie dieses Haus unbedingt verlassen. Eine Reise mit Tom wäre ein Vergnügen. Sie würden zwei oder drei Tage damit verbringen, unaufhörlich über Politik und über den Krieg zu diskutieren. Es gab nichts Besseres, um zu vergessen. Im Beisein von Tom und
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