Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
kleinen Jungen übrigens auch nicht!«, hatte Jörn mit einem wütenden Seitenblick auf die ebenfalls anwesende Frau Zertl hinzugefügt.
Doch der Beamte hatte nur geseufzt und gesagt: »Sie müssen das verstehen, unsere Behörde steht derzeit unter besonderer Beobachtung. Jede Unregelmäßigkeit, jede Fragwürdigkeit …«
»Ich bin weder eine Unregelmäßigkeit, noch bin ich fragwürdig! Ich will nur, dass das arme Kind keinen emotionalen Schaden nimmt!«, hatte Jörn gebrüllt.
»Das wollen wir auch nicht«, hatte der Amtsleiter beteuert. »Und wir wollen auch keinen Ärger.«
»Den werden Sie aber kriegen!«, hatte Jörn geschrien und war aus dem Zimmer gestürmt. »Den werden Sie aber kriegen!«
Dieser unbeherrschte Moment hatte Jörns Position nicht gerade verbessert. Er war nun als unberechenbarer Choleriker vermerkt, worüber Frau Zertl hocherfreut war.
Am nächsten Tag folgte der nächste Dämpfer. Mein Kumpel Arne bei der Morgenpost sah sich trotz exzessiven Drängens meinerseits nicht in der Lage, eine Story über den Fall zu bringen. Ich hatte gehofft, dass er eine sympathisierende Öffentlichkeit mobilisieren könnte.
Doch Arne hatte seufzend gesagt: »Sorry, aber das, was du da hast, ist keine Story. Seit wir den neuen Chefredakteur haben, geht diese Sozialnummer gar nicht mehr. Wir brauchen einen Aufhänger, einen spektakulären Aspekt …«
»Sozialnummer?«, hatte ich empört geknurrt. »Wir sind keine Sozialnummer. Es geht um das Schicksal eines Mädchens, eines kleinen Menschen, der nach vielen schrecklichen Jahren endlich sein Glück gefunden hat, das man ihm nun wieder wegnehmen will! Eines Kindes, das sich etwas antun könnte, wenn …«
Arne hatte mich unterbrochen: »Ey, Alter, es tut mir leid. Wirklich. Aber der neue Chefredakteur braucht es knallig. Das ist eine klare Ansage bei uns in der Redaktion: Sex, Gewalt, Promis. Das ist es, worauf mein Boss steht.«
»Er steht auf Sex und Gewalt?«, wiederholte ich sarkastisch.
Arne grinste resigniert: »Ja. Und auf Promis.«
Als ich beim Abendbrot meiner Familie von diesem unerfreulichen Gespräch erzählte, bemerkte ich das Funkeln in den Augen meiner Tochter nicht. Nele hatte eine Idee. Einen Plan. Und sie zog ihn bereits am nächsten Tag durch …
* * *
Nele stand vor dem Gebäudekomplex in Köln. Sie hatte ihren Eltern nicht gesagt, was sie vorhatte, hatte die Schule geschwänzt und die Fahrkarte für den ICE von ihren Ersparnissen bezahlt. Wahnsinn, wie teuer so eine Bahnfahrt war!
Jetzt stand sie vor den hässlichen, klotzigen Gebäuden und suchte das Studio, in dem die Castingshow aufgenommen wurde. Heute um 16 Uhr war wieder eine Aufzeichnung. Das hatte sie durch einen Anruf bei der Produktionsfirma herausgefunden. Jegor, der binnen kürzester Zeit zu einem der Stars der Show avanciert war, dessen Gesicht inzwischen fast täglich in den Zeitungen zu sehen war und der schon jetzt mehr Freunde auf Facebook hatte als der Sieger der letzten Staffel, würde dort singen. Nele hoffte, ihn abzufangen und ihn überreden zu können, als »Promi« für Peggy zu kämpfen. Dann würde ganz sicher auch die Morgenpost etwas über die Sache bringen. Und wahrscheinlich auch noch ganz viele andere Zeitungen. Und vielleicht sogar das Fernsehen.
Nele hatte ein bisschen Angst. Sie fürchtete sich vor Jegor und hätte nichts dagegen gehabt, ihn niemals wiederzusehen. Sie wusste, dass sie sich mit dieser Aktion einen potenziellen Stalker aufhalste. Jegor war der Typ Mensch, der einem gefährlich werden konnte. Andererseits hatte ihre Faszination für ihn nie wirklich aufgehört. Es gab etwas an Jegor, was sie rührte und ihr gefiel. Er war nicht wie die anderen Jungen, die bloß Fußball spielten und coole Sprüche klopften und einen nie, niemals überraschten, weil sie so beliebig waren, so glatt, so passgenau in das Leben eingefügt. Kleine, austauschbare Schafe. So war Jegor nicht. Und wenn er sang, war er sogar schön. Auf eine schaurige Art.
Dass Nele sich nicht sicher war, ob sie sich in Gefahr begab, wenn sie Jegor ansprach, war allerdings nur ein Problem. Das andere, erheblich pragmatischere bestand darin, dass sie keine Eintrittskarte für die Aufzeichnung hatte und dass das Studio, wie sie nun feststellte, weiträumig abgesperrt war. Nele hatte durch die Absperrungen nicht einmal die Chance, Jegor am Hinterausgang abzufangen, wenn die Aufzeichnung zu Ende war. Sie griff nach ihrem Handy. Doch die Frau im Produktionsbüro lachte nur,
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