Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Gesunde, fröhliche Babys.
»Die Zertl hasst mich«, sagte Jörn. »Ich bilde mir das nicht ein, das ist eine Tatsache. Die ist total religiös und mental irgendwie in den Fünfzigern steckengeblieben. Die ist komplett von gestern. Sie glaubt, dass Schwule keine Kinder in Obhut haben sollten. Und seit ich mich wegen der Sache im Zoo bei ihrem Vorgesetzten beschwert habe, hasst sie mich noch mehr. Sie konnte gar nicht schnell genug alles in die Wege leiten: Peggy wurde gleich am Tag, an dem ihre Mutter starb, in ihren Akten auf Adoptiv-Status hochgesetzt. Und heute kam der Brief, dass sie Peggy binnen der nächsten vierzehn Tage in eine ›neue Unterbringung‹ schaffen werden.«
»Sie wird schon in zwei Wochen adoptiert?«, wunderte sich Petra.
»Nein«, seufzte Jörn. »Dann würde ich ja gar nichts sagen. Das wäre dann eben der Lauf der Dinge. Aber es kann Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern, bis Peggy adoptiert wird. Wenn überhaupt.«
»Aber warum kannst du bis dahin nicht weiter für sie sorgen?«, fragte ich.
»Frag Frau Zertl«, knurrte Jörn.
»Das ist doch absurd«, sagte ich. »Die kann doch nicht …«
»Es gibt da wohl so ein Wohnprojekt der katholischen Kirche, irgendwo in der Eifel oder so, wo Peggy …«
»Aber da kennt sie doch niemanden!«, rief Petra. »Da ist alles fremd.«
»Das würde sie Jahre zurückwerfen«, stimmte Jörn zu. »Sie ist endlich ein wenig aufgetaut. Sie hat Vertrauen zu mir. Und sie hat Nele. Eine bessere Freundin findet sie nirgends. Und …« Jörns Stimme brach. Er versuchte, nicht zu weinen.
»Und sie kommt bald in die Pubertät, um Himmels willen«, merkte Petra an. »Das ist schon die Hölle, wenn du dich in Sicherheit fühlst. Wenn du auch noch irgendwo in der Fremde unter lauten Fremden …«
Es folgte bedrücktes Schweigen.
Dann stand Petra auf und nahm Jörn in den Arm. »Wir lassen das nicht zu«, sagte sie. »Wir lassen sie einfach nicht gehen.«
* * *
Die nächsten Tage gab es kein anderes Thema für uns als Peggy. Die Krise brachte die Kirschkernspuckerbande wieder zusammen. Wir trafen uns fast jeden Abend. Auch Dille hatte seinen Groll gegen Jörn begraben. Dille war zwar manchmal ein sturer Knallkopf, aber wenn es etwas gab, was er verstand, war das die Sorge um die Familie. Und Jörn und Peggy waren Familie. Wir mussten für sie kämpfen.
Sven, der kurz vor der Premiere seines neuen Stückes in Düsseldorf stand, konnte nicht nach Hamburg kommen. Er rief dafür mehrmals täglich an, erkundigte sich und hatte sich ganz von selbst bereit erklärt, den teuren Anwalt zu zahlen, den Jörn beauftragt hatte. Es war ein Anwalt für Familienrecht, der diesen komplizierten Fall in allen Facetten durchleuchtete. Eindeutig, erklärte uns der Jurist, war Folgendes: Wenn die Behörde Adoptiveltern für Peggy fand, wäre Jörns Pflegschaft beendet, und Peggy würde in eine neue, hoffentlich liebevolle Familie kommen. Jörn war bereit, das zu akzeptieren. Die strittige Frage war, warum Jörn nicht Pflegevater bleiben durfte, bis (und falls überhaupt) Adoptiveltern für Peggy gefunden wurden. Warum man sie partout in ein Umfeld verfrachten wollte, in dem sie sich vermutlich weder geborgen noch sicher fühlen würde, anstatt sie dort zu lassen, wo sie glücklich war – zum ersten Mal in ihrem bitteren Leben. Jörn selbst würde Peggy niemals adoptieren können. Als alleinstehender Mann Anfang fünfzig gab es dafür keinerlei rechtliche Grundlage. Susann und ich hätten Peggy ebenfalls sofort adoptiert. Damit wäre sie in ihrer gewohnten Umgebung geblieben, zudem in einer Wohnung mit ihrer geliebten Nele, die ja sowieso schon wie eine große Schwester für sie war, und vor allem ganz nah bei Jörn, doch auch wir waren natürlich zu alt. Es ging nicht darum, was gut für das Kind war. Es gab keine Möglichkeit, flexibel im Einzelfall zu entscheiden, es gab nur Vorschriften.
Jörn sprach mit dem Leiter des Jugendamts, der ihm zwar mehr Sympathie entgegenbrachte als die giftige Frau Zertl, und womöglich hätte er einer weiteren Pflegschaft zugestimmt – hätte es nicht ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt diesen verdammten Skandal gegeben. Der schreckliche Vorfall ging durch alle Medien: Ein elfjähriges Mädchen war in Hamburg-Wellingsbüttel von ihrem Pflegevater monatelang sexuell missbraucht worden.
»Ich habe nicht das geringste sexuelle Interesse an kleinen Mädchen«, hatte sich Jörn empört, als der Amtsleiter den Fall angesprochen hatte. »Und an
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