Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
als Nele sie fragte, in welchem Hotel Jegor übernachtete.
»Das erzähle ich dir doch nicht«, sagte sie. »Wo kämen wir denn da hin?«
Nele setzte sich auf eine kleine Mauer und dachte nach. Sie würde nicht so schnell aufgeben. Sie würde Jegor sprechen. Sie musste Jegor sprechen!
Anderthalb Stunden bevor die Aufzeichnung begann, füllte sich der Platz vor der Absperrung. Schon bald waren da mehr als zweihundert Teenager – mehr Mädchen als Jungen – und auch ein paar Erwachsene. Es herrschte eine wohlige Aufregung. Jeder hatte seinen Favoriten, der leidenschaftlich gegen die anderen Teilnehmer verteidigt wurde. Es war ein wenig wie auf der Gänseweide eines Bauernhofs: Es wurde intensiv geschnattert.
Nele saß auf der Mauer und suchte nach wie vor verzweifelt einen Weg, um an Jegor heranzukommen.
»Der ist so süß mit seinen Augen und so«, schwärmte gerade ein viel zu dünnes Mädchen, das fliederfarbene Hotpants über ihrer hellblauen Strumpfhose trug. Das Mädchen redete aufgeregt mit ihrer Freundin. Sie stellte ihre George Gina & Lucy -Tasche auf die kleine Mauer, direkt neben Nele, und fummelte mit Hilfe ihrer Freundin an ihrer Pants-Strumpfhosen-Kombination herum, die irgendwie zu rutschen oder zu zwacken schien. Und Nele nutzte die Chance. Sie schnappte sich mit einem elegant unauffälligen Handgriff die Tasche, ließ sich flink von der Mauer gleiten und verschwand in der Menge. Sie ging zügig, aber ohne auffällig rasch zu laufen, außer Sichtweite der Leute hinter eine Gebäudeecke und durchwühlte hastig die Tasche. Bitte, flehte sie innerlich, lass die Eintrittskarte hier drin sein!
Und sie hatte Glück. Nele nahm das Ticket und stellte die Tasche auf den Boden. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, immerhin waren Handy und Portemonnaie des Mädchens darin, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie befand sich in einer dramatischen Situation, und diese erforderte dramatisches Handeln.
* * *
Während Nele mit pochendem Herzen in der Schlange vorm Einlass stand und, nachdem ihr gestohlenes Ticket ohne Beanstandung abgerissen worden war, ins Innere des Studios lief, begierig, möglichst dicht an der Bühne zu sitzen, bekam Jörn einen Anruf. Frau Zertl teilte ihm mit, dass Peggy in drei Tagen abgeholt und in die katholische Wohneinrichtung in der Eifel gebracht werden würde.
»Da sind viele Kinder in ihrem Alter«, sagte Frau Zertl. »Es ist besser für sie, glauben Sie mir.« Es lag kein Triumph in ihrer Stimme, keine Gehässigkeit. Aber auch kein Bedauern oder der kleinste Zweifel. Frau Zertl war sich sicher, dass sie das Richtige tat.
Jörn telefonierte sofort all seine Freunde zusammen. Auch Sven. Als Sven abnahm, konnte Jörn nur noch »Ich bin’s« sagen. Dann brach er in Tränen aus. Er weinte. Kein Wort kam mehr über seine Lippen. Nur Schmerz.
»Jörn?«, fragte Sven, der sich gerade in einer Besprechung mit dem Beleuchter seiner neuen Inszenierung befand. »Was ist? Sprich mit mir!«
Doch Jörn weinte nur. Sven war schockiert. Er wusste, wie ernst die Situation war, doch er hatte sie eigentlich immer nur theoretisch begriffen. Seine Verbindung zu Peggy war nie so eng gewesen, dass er Jörns Qualen tatsächlich nachvollziehen konnte. Doch als er Jörn, seinen starken, unbeugsamen Jörn, den Mann, den er einst dafür geliebt hatte, dass er ihm immer sein Fels in der Brandung war, und den er, das begriff er jetzt endgültig, immer noch liebte, als er erlebte, wie dieser Mann zerfiel, begriff auch Sven, dass dramatische Situationen dramatisches Handeln erfordern.
»Ich komme«, sagte er ins Telefon. »In sechs Stunden bin ich da.« Er legte auf und erklärte dem verblüfften Beleuchter: »Ich denke, es ist so weit alles klar. Und den Rest machst du schon. Du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen.«
»Wir haben in drei Tagen Premiere und haben noch nicht mal den technischen Ablauf …«, stammelte der Beleuchter.
»Ich muss los«, sagte Sven und eilte aus dem Theater, geradewegs zum Bahnhof.
* * *
Peggy saß in ihrem Zimmer. Trotz geschlossener Tür hörte sie, was draußen vor sich ging. Die Erwachsenen sorgten sich um sie. Das begriff sie. Und sie mochte sie alle auch unheimlich gern. Leider war Nele heute nicht da. Die übernachtete bei einer Freundin, hatten Tante Susann und Onkel Piet ihr erzählt. Nele hatte vorhin angerufen und Bescheid gesagt. Schade. Peggy hätte es schöner gefunden, wenn Nele bei ihr übernachtet hätte. Sie konnte Peggy immer alles sehr gut
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