Die Henkerstochter
Schon oft hatte sich Simon gefragt, ob sie nicht über drei Ecken mit Jakob Kuisl verwandt war. Da die Henker als unehrlich galten und nur im Ausnahmefall eine Bürgerliche heiraten durften, waren viele Scharfrichterfamilien miteinander verschwägert. Über Jahrhunderte hatten sich wahre Henkersdynastien gebildet. Die der Kuisls war die größte in Bayern.
Lachend kam Anna Maria Kuisl dem Medicus entgegen, doch als sie das Bündel auf seinem Rücken, den warnenden Blick und seine abwehrenden Handbewegungen bemerkte, rief sie die Kinder zurück.
»Georg, Barbara! Geht hinter dem Haus spielen. Onkel Simon und ich haben etwas zu bereden.«
Die Kinder verschwanden murrend, und Simon konnte nun endlich die Stube betreten und die Leiche auf der Küchenbank ablegen. Das Tuch, in dem sie eingewickelt war, fiel zur Seite. Als Anna Maria den Jungen sah, schrie sie leise auf.
»Mein Gott, das ist doch der Sohn vom Grimmer! Was in aller Welt ist passiert?«
Simon erzählte es ihr, während er sich auf einem Stuhl neben der Bank niederließ. Anna Maria schenkte ihm währenddessen aus einem Tonkrug verdünnten Wein ein, den er in großen Zügen trank.
»Und jetzt brauchst du meinen Mann, damit er dir sagen kann, was geschehen ist?«, fragte Anna Maria, als er geendet hatte. Immer wieder blickte sie kopfschüttelnd zu der Leiche des Jungen hinüber.
Simon wischte sich über die Lippen. »Genau. Wo ist er?«
Anna Maria zuckte mit den Schultern. »Ich kann’s dir nicht sagen. Er war oben in der Stadt beim Schmied, um Nägel zu besorgen. Du weißt, dass wir einen neuen Schrank brauchen. Der unsrige platzt schon aus allen Nähten.«
Ihr Blick glitt wieder über das blutige Bündel auf der Küchenbank. Als Frau des Henkers war sie den Anblick von Toten mehr als gewohnt, aber der Tod eines Kindes ging ihr immer noch zu Herzen. Sie schüttelte den Kopf. »Der arme Junge ... «
Dann schien sie sich wieder zu fangen. Das Leben ging weiter, draußen balgten sich lautstark die Zwillinge; die kleine Barbara greinte in den höchsten Tönen. »Am besten, du wartest hier auf ihn«, sagte sie, während sie sich von der Bank erhob. »Du kannst ja in der Zwischenzeit ein wenig lesen.«
Die Henkersfrau lächelte. Sie wusste, dass Simon oft nur deshalb herkam, um in den zerfledderten Folianten ihres Mannes zu blättern. Manchmal ließ der Medicus sich extra eine fadenscheinige Ausrede einfallen, nur um hinunter zum Scharfrichterhaus zu gehen und etwas nachzuschlagen.
Anna Maria warf einen letzten mitleidigen Blick auf den toten Jungen. Dann nahm sie eine Wolldecke aus dem Schrank und legte sie behutsam über die Leiche, so dass sie nicht mehr zu sehen war, falls die Zwillinge plötzlich hereinkommen sollten. Schließlich ging sie zur Tür. »Ich muss draußen nach den Kindern schauen. Nimm dir ruhig noch Wein, wenn du magst.«
Die Tür schloss sich und Simon war allein in der Stube der Henkersfamilie. Sie war groß und geräumig und nahm fast das gesamte Erdgeschoss ein. In der Ecke befand sich ein breiter Kaminofen, der vom Gang aus beheizt wurde. Daneben stand der Küchentisch, über dem das Richtschwert an der Wand hing. Eine steile Treppe führte vom Gang in die obere Kammer, wo die Kuisls und ihre drei Kinder schliefen. Neben dem Kamin war eine schmale, niedrige Tür, die in eine weitere Kammer führte. Simon duckte sich unter dem Türstock hindurch und begab sich ins Allerheiligste.
An der linken Seite standen zwei Truhen, in denen Jakob Kuisl alles verwahrte, was zum Henken und Foltern nötig war. Stricke, Ketten, Handschuhe, aber auch Daumenschrauben und Kneifzangen. Der Rest seines bedrohlichen Arsenals befand sich im Besitz der Stadt, verwahrt auf der Fronfeste, tief unten im Verlies. Neben den Truhen lehnte die Galgenleiter.
Doch Simons Interesse galt etwas anderem. Fast die ganze gegenüberliegende Wand nahm ein riesiger Schrank ein, der bis zur Decke reichte. Der Medicus öffnete eine der vielen Türen und blickte in ein Wirrwarr aus Flaschen, Tiegeln, Ledersäckchen und Phiolen. An der Innenseite der Schrankwand waren Kräuter zum Trocknen aufgehängt und dufteten nach Sommer. Simon erkannte Rosmarin, Bockskraut und Seidelbast. Hinter einer zweitenTür befanden sich unzählige Schubladen, beschriftet mit alchimistischen Zeichen und Symbolen. Simon wandte sich der dritten Tür zu. Dahinter stapelten sich verstaubte Folianten, brüchige Pergamentrollen und sowohl handgeschriebene wie auch gedruckte Bücher. Die Bibliothek
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