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Die Henkerstochter

Titel: Die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver P�tzsch
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Zu leicht konnte man den Halt verlieren und zwischen den mächtigen Buchen und Tannen zermalmt werden. Doch der Fluss war an dieser Stelle ruhig, die Baumstämme dümpelten nur bedrohlich träge vor sich hin.
    Schon nach kurzer Zeit hatten zwei der Männer den Stamm des Jungen erreicht. Mit ihren Stangen stakten sie in den Zwischenräumen, in der Hoffnung auf weichen Widerstand zu stoßen. Die Stämme unter ihnen begannen zu wackeln und zu rollen. Immer wieder mussten die Männer ihr Gleichgewicht halten, barfuß rutschten sie auf der glitschigen Rinde hin und her.
    »Hab ihn!«, rief der eine, kräftigere der beiden plötzlich. Mit seinen starken Armen hob er Stange samt Jungen aus dem Wasser und warf ihn wie einen Fisch am Haken ans rettende Ufer.
    Das Schreien der Floßleute hatte auch andere auf das Unglück aufmerksam gemacht. Waschweiber aus dem nahen Kinsau und einige Fuhrleute waren zum Fluss geeilt.Jetzt standen sie alle um den wackligen Steg und blickten auf das nasse Bündel zu ihren Füßen.
    Der kräftige Flößer strich dem Jungen die Haare aus dem Gesicht. Ein Raunen ging durch die Menge.
    Das Gesicht war blau geschwollen, am Hinterkopf befand sich eine Delle wie von einem starken Hieb mit einem Holzscheit. Der Junge röchelte. Durch die nasse Jacke sickerte Blut auf den Steg und tropfte in den Lech. Dieser Junge war nicht einfach ins Wasser gefallen. Irgendwer musste ihn gestoßen haben, und vorher hatte derjenige kräftig zugeschlagen.
    »Das ist ja der Bub vom Grimmer Josef, von den Schongauer Rottfuhrleuten! «, rief ein Mann, der mit einem Ochsenfuhrwerk etwas abseits stand. »Ich kenn’ den! Der war mit seinem Vater immer unten an der Floßlände. Schnell, schafft’s ihn auf den Wagen, dann fahr ich ihn nach Schongau.«
    »Und lauf jemand vor und sagt’s dem Grimmer, dass sein Junge im Sterben liegt!«, schrie eines der Waschweiber. »Mein Gott, der hat doch schon so viel Kinder verloren...«
    »Sagt’s ihm besser gleich«, brummte der kräftige Flößer. »Der da macht’s nimmer lang.« Er gab ein paar neugierigen Buben einen Klaps. »Lauft’s schon. Und schickt’s auch gleich nach dem Bader oder dem Doktor!«
    Während die Buben Richtung Schongau eilten, wurde das Röcheln des Jungen leiser. Er zitterte am ganzen Leib und schien etwas zu murmeln, vielleicht ein letztes Gebet. Er war etwa zwölf Jahre alt und sah schmächtig und blass aus wie fast alle Kinder in seinem Alter. Seine letzte vernünftige Mahlzeit lag schon einige Wochen zurück, und die wässrige Gerstensuppe und das Dünnbier der vergangenen Tage hatten seine Wangen einfallen lassen.
    Die rechte Hand des Jungen griff immer wieder ins Leere, sein Murmeln schwoll an und ab wie das Rauschen des Lechs unter ihm. Einer der Flößer hatte sich über ihn gekniet, um zu verstehen, was der Junge von sich gab. Doch das Murmeln ging über in ein Blubbern; hellrote Blutbläschen, vermischt mit Speichel rannen an den Mundwinkeln hinunter.
    Sie hoben den Sterbenden auf den Karren, der Fuhrmann ließ die Peitsche knallen, dann rollte der Wagen auf der Kinsauer Straße Richtung Schongau. Auf dem gut zweistündigen Weg schlossen sich immer mehr Menschen dem stillen Zug an. Als die Prozession endlich die Floßlände der nahen Stadt erreichte, trotteten über zwei Dutzend Schaulustige hinter dem Wagen her. Kinder, Bauern, klagende Waschweiber. Hunde sprangen kläffend um die Ochsen herum, jemand murmelte ein Ave-Maria. An der Mole neben dem Lagerschuppen ließ der Fuhrmann den Karren halten. Zwei Flößer hoben den Jungen vorsichtig hinunter und betteten ihn auf Stroh ans Ufer, direkt neben den gluckernden, wirbelnden Lech, der rastlos gegen die Pfeiler strömte.
    Polternde Schritte auf dem Holzsteg ließen das Gemurmel der Menge plötzlich verstummen. Der Vater des Jungen hatte ein wenig abseits gewartet, als scheute er den letzten, endgültigen Augenblick. Jetzt schob er sich bleich durch die Menschenmassen.
    Josef Grimmer hatte acht Kinder gehabt, die ihm nacheinander unter der Hand weggestorben waren. An Pest, Durchfall, Fieber, oder einfach, weil der liebe Herrgott es so wollte. Der sechsjährige Hans war beim Spielen im Lech ertrunken, die dreijährige Marie hatten betrunkene Söldner in einer Seitenstraße niedergeritten. Gemeinsam mit dem jüngsten war auch seine Frau im Kindbett verschieden.Der kleine Peter war alles, was dem alten Grimmer noch geblieben war. Als er ihn jetzt so vor sich liegen sah, wusste er, dass der Herr ihm auch

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