Die Herren der Unterwelt 02 - Schwarzer Kuss
wieder in die Vergangenheit schweifen. Auch sie war damals von Sterblichen angebetet worden. Aber heutzutage glaubte niemand mehr an Götter. Sie sind als Mythen und Legenden abgeschrieben worden. Ihr war das gleichgültig, während die anderen sich darüber aufregten. Sie wollte ohnehin lieber unerkannt bleiben.
„Sie haben ihre Familienmitglieder geopfert“, antwortete sie schließlich, während sich ihr Magen zusammenzog. Wie sehr sie das gehasst hatte! Gott sei Dank waren diese Zeiten endlich vorbei! „Meistens wurden unschuldige Menschen dafür ausgewählt. Jungfrauen. Ihnen wurden die Kehlen durchgeschnitten, dann hat man sie ausbluten lassen.“
Lucien wurde blass. „Das ist es, was die Götter wiederhaben wollen? Das war es, was man früher tat?“
„Nicht immer. Aber manchmal war es auch so, dass jemand, der Hilfe von den Göttern benötigte, freiwillig sein Blut opfern wollte. Das war mehr wert, als jemanden zu töten und hätte ausgereicht. Aber letztendlich sind die Leute doch feige und opfern lieber jemanden aus der Familie, was sie dann noch als gute Tat deklarieren.“
Lucien sah jetzt schon wieder besser aus. Er nahm einen Dolch aus dem Schaft seines Stiefels. Die Klinge machte ein Geräusch, als er mit ihr am Leder entlangfuhr.
Anya wich einen Schritt zurück, hob die Hände und rief: „Was, willst du mich jetzt opfern?“
„Weder bist du eine Jungfrau, noch liebe ich dich“, murmelte er.
Mit knirschenden Zähnen hielt sie plötzlich inne und richtete sich auf. Mit beiden Füßen stand sie sicher auf dem Boden. Dieser Mistkerl. Er wusste beide Male nicht, wovon er redete, und es war nicht so, dass er es ihr noch einmal unter die Nase reiben musste, dass er sie nicht liebte. „Ich bin deine Beleidigungen allmählich leid, Honey. Ich habe dir heute geholfen. Und ich habe dir schon letzte Woche geholfen. Ich habe dir auch vor einem Monat geholfen.“
Er seufzte beschämt. „Stimmt. Entschuldige bitte. Das war ungehörig, und ich werde es nie wieder sagen.“
„Nun gut.“ Anya hatte nicht erwartet, dass er sich entschuldigen würde. Das brachte sie nun aus der Fassung. Sie musste sich etwas anderes überlegen. „Was willst du …“ Sie unterbrach sich, als sie sah, wie er sich mit dem Messer erst das linke und dann das rechte Handgelenk aufschlitzte. Geschockt eilte sie zu ihm: „Du bist doch wahnsinnig, Lucien! Absolut wahnsinnig.“ Er würde nicht sterben, das wusste sie ja, aber trotzdem!
„Wir werden sehen.“ Die Schnitte waren tief und troffen vor Blut.
Aus Mitleid fingen auch ihre Handgelenke an zu schmerzen. Zwar hatte sie ihn selbst schon einmal fast abgestochen, aber in diesem Moment konnte sie es nicht ertragen zu sehen, wie er sich verletzte. Sie nahm seinen Arm und drückte seine Hand an sich, in der Hoffnung, mit ihrem Kleid die Blutung des Gelenks aufzuhalten. Das Blut floss an ihr hinunter zu Boden.
Sobald es in den Sand tropfte, stieß Lucien einen Schrei aus und fiel auf die Knie. Sie war noch besorgter. „Lucien. Was ist los?“ Er war doch unsterblich und konnte unmöglich aufgrund solch einer Wunde sterben. Aber dennoch machte sie sich Sorgen. Vielleicht lastete ein Fluch auf ihm. Vielleicht war er …
Noch einmal stöhnte er auf und griff sich an den Bauch.
„Lucien, sag mir verdammt noch mal, was los ist!“
Er kniff die Augen zusammen, atmete schwer und öffnete sie langsam wieder. Plötzlich war die Iris auf beiden Seiten blau. Seine Augen wirkten wie aus einer anderen Welt. Sie waren glasklar, und in ihnen schien ein Sturm zu wüten. Schwankend kam er auf die Beine und riss sich wie in Trance von ihr los. Er stolperte vorwärts zu der einzigen noch stehenden Wand des Tempels.
„Ich kann es sehen.“
Vor Erleichterung wäre Anya fast umgefallen. Er hatte eine Vision. Früher gaben die Götter, oder manchmal sogar der Tempel selbst, eine Belohnung, wenn ihnen das Opfer zusagte. Anya überlegte, ob es dem Tempel wohl gefiel, dass er nun wieder benutzt wurde. „Was siehst du?“ Sie musste sich zwingen, ihn nicht zu umarmen.
„Vielleicht habe ich etwas gefunden“, rief er und beachtete sie nicht weiter.
Alle vier Krieger kamen wie Racheengel um die Säulenstümpfe herumgestürmt. Dann sahen sie sie und hielten die Luft an. Ihr Kostüm einer französischen Kammerzofe war heiß und eigentlich nur für Luciens Augen bestimmt gewesen. Dennoch teleportierte sie sich nicht fort, um sich umzuziehen. Sie wollte nichts verpassen.
Keiner der Männer
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