Die Herren der Unterwelt 04 - Schwarzes Flüstern
zu wählen“, befahl er ihr.
Mit zitternder Hand hob Gwen das Telefon hoch. Tränen brannten in ihren Augen. Während des gesamten Jahres, das sie in Gefangenschaft verbracht hatte, hatte sie genau das tun wollen. Sie hatte die Stimmen ihrer Schwestern hören müssen. Aber nach wie vor schämte sie sich für das, was ihr widerfahren war, und sie wollte nicht, dass sie es erfuhren.
„Bei uns ist Morgen, in Alaska ist es also mitten in der Nacht“, wandte sie ein. „Vielleicht sollte ich warten.“
Sabin zeigte keine Gnade. „Wähle!“
„Aber …“
„Ich verstehe nicht, warum du zögerst. Du liebst sie. Du willst sie hier bei dir haben. Das war sogar eine Bedingung von dir, ohne die du nicht bei mir geblieben wärst.“
„Ich weiß.“ Sie fuhr mit den Fingern über die leuchtenden Ziffern auf dem kleinen schwarzen Gerät. Ihre Schuldgefühle kehrten zurück. Schuldgefühle, weil sie ihre geliebten Schwestern auf ein Lebenszeichen von sich warten ließ – oder, falls sie gar nicht wussten, dass man sie entführt hatte, weil sie sie auf einen simplen Anruf warten ließ.
„Werden sie dir die Schuld geben? Werden sie dich bestrafen wollen? Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich das verhindern werde.“
„Nein.“ Vielleicht. Was sie hingegen sicher wusste, war, dass sie von Sabin verlangen würden, in seinem Krieg für ihn kämpfen zu dürfen, genauso wie er es wollte. Sie würden wollen, dass man ihnen Jäger auf dem Silbertablett servierte, und zwar roh und frisch. Doch wenn ihnen wegen Gwen etwas zustieß … Dafür würde sie sich für immer und ewig und noch viel länger hassen.
„Ruf an“, forderte Sabin sie auf.
Mach es doch selbst, dachte sie. Schwer seufzend wählte sie Biankas Nummer. Bianka war von den dreien die weichherzigste. Und mit weichherzig meinte Gwen, dass Bianka ein Glas Wasser nach der Person werfen würde, die sie kurz zuvor angezündet hatte.
Nach dreimaligem Klingeln meldete sich ihre Schwester. „Ich habe keine Ahnung, wer mich mit dieser Nummer anruft, aber du bewegst besser sofort deinen Arsch …“
„Hey, Bianka.“ Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die vertraute und über alles geliebte Stimme hörte, und die Tränen, die eben noch in ihren Augen gestanden hatten, liefen ihr die Wangen hinunter. „Ich bin’s.“
Eine Pause, dann atmete jemand hörbar ein. „Gwennie? Gwennie, bist du das?“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen, als sie Sabins feurigen Blick spürte, der sie förmlich auffraß. Was dachte er jetzt? Als überzeugter Krieger widerte ihn ihre Schwäche – oder besser gesagt: eine weitere Demonstration ihrer Schwäche – bestimmt an. Und das war gut so. Wirklich. Sie hatten sich unter der Dusche geküsst und berührt. Und Gwen war bereit gewesen, weiter zu gehen, mehr zu nehmen, alles zu nehmen, alles zu geben, obwohl er so war, wie er war, und trotz allem, was er zu ihr gesagt hatte; Ankündigungen, die er letztlich wahrmachen würde.
„Hey, bist du noch da? Gwennie? Geht es dir gut? Was ist los?“
„Ja, ich bin’s. Die Einmalige“, antwortete sie endlich.
„Meine Götter, Mädchen. Weißt du eigentlich, wie lange es her ist?“
Zwölf Monate, acht Tage, siebzehn Minuten und neununddreißig Sekunden. „Ich habe da so eine Ahnung. Und, wie geht es dir?“
„Besser, jetzt, da ich von dir gehört habe. Aber ich bin stinksauer. Taliyah wird dir gehörig den Kopf waschen, wenn sie dich findet. Vor einiger Zeit haben wir deine Nummer gewählt, um Hallo zu sagen und dir zu drohen, dass wir dir einen kräftigen Klaps verpassen, wenn du nicht nach Hause kommst. Keine Antwort. Also haben wir Tyson angerufen. Er sagte, du seist ausgezogen, und er wisse nicht, wie man dich erreichen könne. Wir haben auf der ganzen götterverdammten Welt nach dir gesucht, aber ohne Erfolg. Am Ende haben wir Tyson einen persönlichen Besuch abgestattet, und er erzählte uns, dass du gegen deinen Willen mitgenommen worden seist.“
„Habt ihr ihn gefoltert?“ Sie war nicht böse auf ihn und wollte nicht, dass man ihm wehtat. Er hatte sich nur geschützt, und das verstand sie.
„Na ja … ein bisschen vielleicht. War aber nicht unsere Schuld. Er hat kostbare Zeit verschwendet.“
Sie stöhnte; dann rief sie sich Bianka ins Gedächtnis: das schwarze Haar, das sie um ihren Kopf gewickelt trug, bernsteinfarbene leuchtende Augen, rote Lippen, auf denen ein verrücktes Grinsen lag. Gwen musste unwillkürlich lächeln. „Also
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