Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut W. Pesch
Vom Netzwerk:
Blick zu verschleiern, sodass er den Tod ringsum nicht sah.
    Doch er brauchte ihn nicht zu sehen, denn die Verzweiflung, die ihn erfüllte, kam von innen und nicht von außerhalb. Mit einem Mal hatte er erkannt, was ihn so quälte. Nicht sein Ring war es gewesen, der sie an diesen Ort gebracht hatte. Es war die Macht jenes anderen Ringes, der an der Hand des Schattenfürsten steckte, in dessen Sog sie in die ferne Vergangenheit hinabgezogen worden waren.
    Das Bild stand ihm wieder vor Augen, das er in seinem Traum gesehen hatte – war es wirklich erst vor wenigen Tagen gewesen? Es erschien ihm wie Jahre, wie Jahrhunderte. Das Bild von dem kahlen Hügel, den er heraufkroch, willenlos, machtlos, nur der Macht dessen gehorchend, der ihn am Ende erwartete. Und dass er nichts, aber auch gar nichts gegen die Macht ausrichten konnte, die über alle Zeit der Welt gebot.
    Im Gegenteil.
    Er sollte nicht hier sein. Er würde alles nur noch viel schlimmer machen, als es war. Ja, vielleicht lag das ganze Übel der Welt in seiner Person begründet, die zur falschen Zeit am falschen Ort erschienen war und damit die Pläne des Göttlichen Paares zunichte gemacht hatte, in denen alles vorherbestimmt war, vom Anfang der Welt bis zu ihrem Ende.
    Und so, wie er blinden Auges durch eine Welt voll Verzweiflung stolperte, sah er auch nicht die Schatten, die ihm folgten.
    Sie waren einfach da.
    Sie waren nicht geboren, sie waren nicht entstanden. Sie hatten kein Bewusstsein; sie waren eins und doch viele. Dort, wo die Toten waren, unbestattet, heimatlos, dort waren auch sie. Vielleicht waren sie die Gestalt gewordene Trauer, dort, wo niemand trauerte; doch sie selbst waren solcher Begriffe nicht fähig. Sie dachten nicht, und sie fühlten auch nicht. Sie bezeugten nur, allein durch ihre Gegenwart, dass hier etwas Ungeheuerliches geschah, etwas, das die Ordnung der Welt auf den Kopf stellte. Und so gesehen, waren sie ein Teil dieser Ordnung und standen wiederum auch außerhalb derselben.
    Aber das sind alles nur Worte, und das Wort war ihnen fremd, denn es war nie an sie ergangen. Und darum, wenn alles so geblieben wäre, wie es war, wären sie eines Tages, wenn die Erde die Knochen der Toten aufgenommen hätte, wohl auch wieder verblasst, als ob sie nie existiert hätten.
    Dann kamen die Lebenden unter die Toten. Und gingen.
    Es war nicht Neugier, was die Schatten bewegte. Es war allein die Veränderung, die dies bewirkte: den Übergang vom bloßen Sein zum Handeln. Nicht mehr. Nicht weniger.
    Der Schatten des Todes folgt immer dem Leben.
    An diesem Tag kamen sie nicht mehr weit. Mit dem Niedergang der Sonne, die blutrot im Westen verbrannte, legte sich eine lähmende Stille über das Land. Fern im Osten stach die Kette des Sichelgebirges wie eine Reihe schartiger, rotgezackter Zähne in den dunkelnden Himmel. Die steilen Hänge fielen in Klippen und Felswänden, durchzogen von engen Tälern, zu dem Plateau ab, auf dem sich, schwarz gegen die fernen Schneefelder des Nordens, die Feste der Schatten erhob.
    Nichts wuchs hier außer Gestrüpp mit fingerlangen Dornen und Ranken zäh wie Draht. Langsam und mühselig kletterten Kim und Fabian, teils auf allen vieren kriechend, über Felsen und Dornensträucher. Ihr einziges Ziel war es, die Stätte der Toten so weit hinter sich zu lassen, wie es im schwindenden Licht noch möglich war.
    Schließlich, als Kim in der Dunkelheit ein zweites Mal in eine Felsspalte getreten war und man kaum mehr sehen konnte, wohin man den Fuß setzte, hielten sie an. Im Schatten eines mächtigen Findlings suchten sie sich einen Schlafplatz für die Nacht.
    Obwohl es ringsum kaum etwas Lebendes gab, war das Land nicht tot. Ein Knistern und Knacken erfüllte das Gestein, als ächze die Welt selbst ob der Gewalt, die ihr angetan worden war, und irgendwo zwischen den Ritzen rieselte Wasser, bahnte sich seinen Weg, unaufhaltsam wie zu allen Zeiten, hinab zum Zentrum der Welt, um dort am Ende aller Tage zur Ruhe zu kommen.
    »Wir müssen morgen irgendwo Wasser finden«, meinte Fabian. »Ohne Essen können wir eine Zeit lang überleben, aber nicht ohne etwas zu trinken.«
    »Mein Hals ist schon ganz trocken«, gab Kim zurück. »Ich glaube, ich habe noch etwas Elbenbrot in meinem Rucksack, aber ohne Wasser wird sich das kaum herunterwürgen lassen.« Der Gedanke, dass sich irgendwo unter ihnen Wasser verbergen musste, machte den Durst noch unerträglicher. »Ach ja«, fügte Kim hinzu, »und ein Buch habe ich auch noch.

Weitere Kostenlose Bücher