Die Herren von Hermiston
»Kirstie!«
»Kirstie, in der Tat!« rief das Mädchen mit flammenden Augen und schneeweißem Gesicht. »Mein Name ist Fräulein Christina Elliott, gebe ich Ihnen zu verstehen, und ich verbiete Ihnen, mich irgendwie anders zu nennen. Kann ich nicht Liebe haben, so verlange ich wenigstens Respekt, Mr. Weir. Ich stamme von anständigen Leuten ab, und ich verlange Respekt. Was habe ich denn getan, daß Sie mich so leichtfertig behandeln? Was habe ich nur getan? Was habe ich getan? Oh, was habe ich überhaupt getan?« Ihre Stimme überschlug sich bei der dritten Wiederholung. »Ich glaubte – ich glaubte – ich glaubte, ich wäre so glücklich!« Das erste Schluchzen brach aus ihr hervor, krampfartig, gleich einer tödlichen Krankheit.
Archie lief auf sie zu. Er nahm das arme Kind in seine Arme, und sie schmiegte sich an seine Brust wie an die einer Mutter und packte ihn mit Händen, fest wie Schraubstöcke. Er fühlte, wie ihr ganzer Körper in verzweifeltem Schmerz kreiste, und Mitleid, stärker als Worte, erfaßte ihn: Mitleid und Furcht zugleich vor diesem explosiven Etwas, das er da in den Armen hielt, das er nicht verstand und in dessen Maschinerie er dennoch eingegriffen. Der Vorhang seiner Knabenzeit ward plötzlichvor ihm hochgezogen, und zum erstenmal erschaute er das rätselvolle Gesicht des Weibes in seiner wahren Gestalt. Vergebens überdachte er ihre Unterredung; er wußte nicht, worin er gefehlt. Das Ganze schien schuldlos über ihn hereingebrochen – eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur –.
Nachwort des englischen Herausgebers
Mit den letzten gedruckten Worten »eine willkürliche Erschütterung der brutalen Natur« endet der Roman »Die Herren von Hermiston«. Jene Worte wurden, soviel ich weiß, noch am nämlichen Morgen diktiert, da der letzte, jähe Anfall den Autor dahinraffte. »Die Herren von Hermiston« nimmt somit in den Werken Stevensons den Platz ein, den Edwin Drood in der Lebensarbeit Dickens' oder Denis Duvals in der Thakerays innehaben: oder vielmehr, unser Roman bedeutet relativ mehr, denn während jenen anderen beiden Fragmenten ein ehrenvoller Platz in ihrer Verfasser Werken gebührt, nimmt »Hermiston« in Stevensons Schaffen zweifellos den Ehrenplatz ein.
Die Leser werden in der Frage, ob sie Weiteres über den geplanten Verlauf der Geschichte und das Schicksal ihrer Charaktere zu erfahren wünschen, geteilter Meinung sein. Einigen wird Schweigen und die Möglichkeit, selbst mit Hilfe solcher Fingerzeige, wie der vorliegende Text sie bietet, sich die Fortsetzung auszuspinnen, als das Beste erscheinen. Ich gestehe, daß dies auch die Auffassung ist, zu der ich persönlich neige. Da andere jedoch – und zweifellos die Mehrzahl der Leser – durchaus alles wissen möchten, was es darüber zu sagen gibt, und da Herausgeber und Verleger ihre Stimmen mit ihnen vereinen, kann ich wohl nicht umhin, ihren Wünschen entgegenzukommen.Der geplante Entwurf verläuft, soweit er bei des Autors Tode seiner Stieftochter und treuen Gehilfin, Mrs. Strong, bekannt war, etwa wie folgt:
Archie hält an seinem guten Vorsatz fest, weitere Schritte zu vermeiden, die die jüngere Kirstie kompromittieren könnten. Frank Innes macht den Vorteil, der ihm aus des Mädchens Unglück und verletzter Eitelkeit erwächst, seiner Absicht, sie zu verführen, dienstbar, und Kirstie, obwohl im Herzen immer noch Archie treu, fällt Frank zum Opfer. Die ältere Kirstie bemerkt als erste, daß etwas nicht im Lot ist; sie hält Archie für den Schuldigen und klagt ihn an, wodurch er erst von seiner Liebsten Unglück erfährt. Er leugnet nicht sofort, der Schuldige zu sein, sondern sucht die junge Kirstie auf, die ihm die Wahrheit gesteht, und er, der sie immer noch liebt, verspricht in ihrer Not, sie zu schützen und ihr beizustehen. Anschließend daran hat er mit Frank Innes eine Unterredung, die damit endet, daß Archie Frank im Streit neben des Betenden Webers Stein tötet. Inzwischen haben die Vier Schwarzen Brüder von dem Verrat an ihrer Schwester erfahren und beschließen, an Archie, als dem vermeintlichen Verführer, Rache zu nehmen. Sie sind im Begriff, ihn zu stellen, als die Polizei ihn wegen des Mordes an Frank verhaftet. Er wird vor seinen Vater, den Lord Oberrichter, geführt, schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Inzwischen jedoch hat die ältere Kirstie von ihrer Nichte die Wahrheit erfahren und ihre Neffen benachrichtigt, und diese greifen in einem ungeheuren Rückschlag der
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