Die Herrin der Kathedrale
Jahren.«
Uta durchdachte die Worte des Werkmeisters erneut. Von einem solch komplexen Vorhaben hatte sie noch nie gehört.
»Wir können also zum heutigen Zeitpunkt schon genau sagen, wann wir welche Arbeiter, Werkzeuge, Materialien und natürlich wie viel Geld wir für den ersten Bauabschnitt benötigen. Dadurch haben wir sie spätestens wenige Wochen vor Beginn auch zur Verfügung.«
Uta grübelte. »Das funktioniert aber nur, wenn es keine verzögernden Zwischenfälle gibt.«
»Richtig, Gräfin. Deswegen skizzieren wir auch so genau vorab und besprechen die Planung rechtzeitig mit den Gewerkmeistern.«
Wir werden zeitweilig also an allen sieben Gebäudeteilen gleichzeitig arbeiten!, dachte Uta fasziniert. »Wie viele Arbeiter benötigen wir denn für den ersten Bauabschnitt?«
Tassilo erinnerte sich an seinen letzten Auftrag. »In Hildesheim waren es einhundertfünfzig Steinbrecher und Transportarbeiter. Zudem einhundertfünfzig Steinmetze und Maurer, dazu kamen an die fünfzig Schmiede, Wagner und Zimmerleute.«
Uta prägte sich die genannten Gewerke ein. »Benötigen wir alle Handwerker von Beginn an?«
»Ich denke schon und in Anbetracht der Größe des Baus sogar noch einige mehr, Gräfin.«
»Wie groß wird er denn genau?«
Daraufhin zeigte Meister Tassilo auf die Lederzeichnung an der Wand. »Seht Ihr dort unten die Zahlen?«
Uta las: »1:20.«
»Das ist der Maßstab. Unsere Kirche wird also zwanzigmal größer als hier abgebildet, genauer gesagt: Hier ist sie dreizehn Fuß lang, draußen auf dem Platz werden es zweihundertsechzig 19 Fuß werden.«
Uta staunte. Alles passte zusammen, und jeder Buchstabe, ja sogar jeder Strich erfüllte eine unverzichtbare Aufgabe. »Ich werde den Vogt befragen, wie hoch die üblichen Löhne für diese Arbeiten hier sind, damit wir sie ausschreiben können.« In Gedanken ging sie bereits ihren neuen Tagesablauf durch: Morgengebet bei Dunkelheit, dann Schreibarbeiten zum Anwerben der Handwerker anstelle des morgendlichen Ausritts, danach Burgverwaltung und Vorratsorganisation für das Heer.
»Herrin?« Katrina war nach einem Klopfen heftig atmend eingetreten. »Das Kind!«, sagte sie ungewohnt dringlich. »Es kommt!«
Utas Gedanken kehrten vom Grundriss, den Bauabschnitten und der neuen Tagesplanung nur langsam in die Gegenwart zurück. »Das Kind?«
»Sie schreit schon«, sagte Katrina und trat von einem Bein aufs andere.
»Erna!«, entfuhr es Uta entsetzt. »Meister Tassilo, entschuldigt mich. Habt Dank für Eure Erklärungen. Noch heute werde ich die ersten Schreiben aufsetzen.« Mit Katrina an der Seite stürzte sie aus der Turmkammer.
Als sie die alte Schmiede betraten, herrschte dort Aufregung. Eine ältere Frau, die Uta wegen ihrer Leibesfülle an ihre Amme erinnerte, scheuchte ein junges Mädchen durchs Haus.
»Frische Lappen, damit wir die Wöchnerin reinigen können!« In ihrer Hektik bemerkte die Frau gar nicht, dass die Burgherrin eingetreten war, und verschwand grußlos in einem Nebenraum.
Besorgt um die Freundin, eilte Uta die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Wenn es Erna nur gutging! Vor der Kammertür sprach sie hastig ein Gebet für das Wohlergehen der Freundin. Dann öffnete sie die Tür und erblickte Erna, die in ihrem Bett lag und selig lächelnd ein Bündel in ihren Armen wog.
»Erna, dir geht es gut!« Uta stürmte an die Seite der Freundin und umarmte sie heftig.
Als Antwort reckte Erna ihr das schreiende Neugeborene entgegen. »Darf ich vorstellen – unsere Luise!«
Unbeholfen nahm Uta das Kind entgegen und betrachtete die winzige Portion Mensch, die in dickes Leinen eingehüllt war und ihr schreiend die rosafarbigen Ärmchen entgegenstreckte. Luise besaß das krause Haar Ernas in der glutroten Farbe des Vaters. Es wuchs dem kleinen Mädchen in einem schmalen Streifen mitten über den Schädel. Wie eine kleine Füchsin, dachte Uta.
»Wieg sie ein bisschen, das beruhigt«, empfahl Erna und deutete eine Wiegebewegung an.
Besorgt, eine der dünnen Gliedmaßen zu verletzen, begann Uta, das Mädchen zu wiegen. Mit jeder ihrer Bewegungen fielen Luise die Augen ein wenig mehr zu. Da ertönte ein Schrei aus der Ecke der Kammer.
»Darf ich Euch vorstellen, Gräfin, das ist unsere Erstgeborene, Selmina«, sagte Arnold stolz und trat mit einem zweiten Bündel vor Uta.
Verblüfft schaute diese von ihrem Mädchen auf das in Arnolds Armen und erblickte noch eine zweite Füchsin. »Zwillinge«, hauchte sie fasziniert und hätte die kleine
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