Die Herrin der Kathedrale
Vierungsquadrat.«
Gebannt war Uta den Ausführungen des Meisters gefolgt und zählte nun nach.
»Dreimal im Mittelschiff, Meister«, bestätigte sie, ohne die Augen von der Zeichnung zu nehmen. Dann betrachtete sie den Westchor, der nur eine halbe Vierung enthielt und tatsächlich nur halb so groß wie der Ostchor war. »Und die Kreuze in den …«, sie begann nach dem richtigen Begriff zu suchen, als Meister Tassilo auch schon ergänzte: »Die Kreuze in den Seitenschiffen?«
»Ja.« Uta prägte sich das Wort fest ein. »Warum tauchen die nicht im Mittelschiff auf?«
»Die Kreuze markieren die Gewölbe«, entgegnete Tassilo.
»Das Mittelschiff wird von einer hölzernen Flachdecke überspannt, die Seitenschiffe hingegen werden steinerne Gewölbedächer bekommen.«
Während sich das Liniennetz um den käferartigen Chor in Utas Vorstellung weiter aufklärte, fuhr Meister Tassilo fort:
»Wir werden noch viele, wahrscheinlich an die hundert Zeichnungen erstellen müssen. Unser Ziel ist es, alle Pläne mindestens ein Jahr vor Beginn ihrer Umsetzung vorliegen zu haben, so dass wir Gelder und Verfügbarkeiten, noch bevor die verschiedenen Gewerke mit der Arbeit beginnen, miteinander abgleichen können.«
Bei dem Wort Gewerke erinnerte Uta sich an den eigentlichen Grund ihres Besuchs. »Welche Gewerke werden wir in den ersten Phasen benötigen, und welche Fertigkeiten werbe ich am besten an?«
»Für die Planung haben wir ein Buch angelegt. Schaut her.« Meister Tassilo schlug eine zweite, pralle Pergamenten-Sammlung auf. »Stellt Euch vor, dass für die meisten Gebäudeteile immer die gleichen Schritte abzuarbeiten sind. Der erste Schritt ist stets das Ausheben des Erdbodens und das Setzen der Fundamente. Dies gilt zeitversetzt für alle sieben Gebäudeteile: für den Ostchor, den Westchor, die Westkrypta, für das Querhaus, für das aus Mittel- und Seitenschiffen bestehende Langhaus, für die Osttürme und für die Westtürme. Sie alle benötigen eine Stütze tief im Erdboden, damit der Bau nicht ins Wanken gerät. Danach ziehen wir für jeden Gebäudeteil die unteren und die oberen Wände bis zum Dachansatz hoch. Auf diesen ruht dann das Dach oder das Gewölbe.«
Uta verstand. »Also drei Schritte für jeden Gebäudeteil.«
»Wenn das Dach aufgesetzt ist, sind wir noch nicht ganz fertig.« Tassilo deutete auf eine farbige Zeichnung, die ein Knäuel von Leitungen offenbarte. »Wenn wir das Dach dichthaben, müssen wir Ableitungen anbringen, damit das Mauerwerk und die Holzkonstruktion des Daches nicht vom Regenwasser aufgeweicht werden. Und schließlich schaffen wir die Portale und Feinheiten im Inneren wie die Verzierungen an den Stützpfeilern. Erst wenn die Glocken in den Türmen hängen und den richtigen Klang von sich geben, sind wir wirklich fertig.«
»Ein komplexes Wunderwerk«, meinte Uta ehrfürchtig und schaute erneut auf das Grundrissleder an der Wand.
»Ein Wunderwerk ist es, wenn wir es innerhalb eines solch strengen Zeitrahmens wie in unserem Fall fertigstellen können. Zehn Jahre sind für eine Kathedrale rein gar nichts. Deswegen werden wir die Klausur, in die sich die hiesigen Geistlichen zurückziehen können, auch erst nach Fertigstellung der Kathedrale bauen.«
»Aber wie können wir es denn dann überhaupt schaffen?«, fragte Uta und wiederholte gedanklich noch einmal die vier soeben erfahrenen Bauphasen: Fundamente, Mauerwerk, Dach sowie Feinheiten.
»Indem wir planen und zeichnen«, erklärte Meister Tassilo überzeugt. »Wir haben jeden Bauabschnitt separat geplant. Ein jeder umfasst zwei oder drei der sieben Gebäudeteile und durchläuft die vier Schritte: Fundament, Mauern, Dach, Feinheiten. Wir beginnen mit dem Ostchor und der Westkrypta. Sobald die Mauern des Chores stehen, kann der Altar darin bereits geweiht und auch der Schleier der heiligen Plantilla eingelassen werden. Das ist der erste Bauabschnitt. Der zweite Bauabschnitt umfasst die Gebäudeteile Langhaus und Querhaus. Natürlich arbeiten wir gleichzeitig auch an den Gebäudeteilen der vorangegangenen Bauabschnitte weiter.« Uta war beeindruckt. »Wir bauen also an mehreren Gebäudeteilen parallel.«
»Genau.« Meister Tassilo nickte. »Erst im dritten Bauabschnitt fangen wir mit dem eigentlichen Westchor und den Türmen an, beenden die Gebäudeteile des ersten Bauabschnitts und führen den zweiten Bauabschnitt weiter. Zu dieser Zeit wollen wir bereits das Dach auf dem Ostchor haben: von heute ab gesehen in vier
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