Die Herrin der Kathedrale
ermöglichten. Mit ausgestreckter Hand und zitterndem kleinem Finger trat er vor die Wand und schob mit der anderen den Teppich mit dem Gekreuzigten beiseite. Dahinter befand sich in einer Nische ein bronzenes Schränkchen, das fest im Mauerwerk verankert war. Das Schränkchen hatte mittig ein Schlüsselloch, das einzig ein besonderer Schlüssel zu öffnen vermochte: der Ring an seinem kleinen Finger. Seitdem er ihn vor fünf Tagen überreicht bekommen hatte, schien dieser mit seinem Fleische verwachsen zu sein.
Bedächtig führte Hildeward den kleinen Finger vor das Schloss. Beinahe lautlos rasteten die Stifte in das Schließsystem ein. Mittels leichten Drucks nach oben zog sich der Federschließer zusammen, wodurch der Schließkolben freigegeben wurde und die Tür des Bronzeschränkchens geräuschlos aufschwang. Beim Anblick des darin enthaltenen Kästchens stockte Hildeward der Atem. Mit Adlerkrallen ergriff er das verwahrte Gut, hob es aus dem Schränkchen und presste es an seine Brust. Ein Schauder durchfuhr jede Faser seines schmächtigen Körpers. »Zeigt Euch mir, heilige Plantilla«, forderte er, während er den Deckel des Kästchens öffnete. Mit leuchtenden Augen blickte er auf den milchweißen Schleier. »Weiß – die Farbe der Reinheit!«, murmelte er, bevor er das Überbleibsel sanft berührte und vor Erregung bebend die Augen schloss. Alles würde gut werden. Er musste nur dafür sorgen, dass er dieses Heiligtum noch recht lange bei sich behalten konnte und es nicht gleich dem neuen Gotteshaus übergeben musste, sobald der Chor erbaut und zur Segnung bereitstünde.
Noch bevor sich die Strahlen der Herbstsonne durch das Fenster von Utas Kemenate stahlen, schlug sie die Augen auf und schaute auf das Pult, das sie sich am Vorabend hatte bringen lassen. In den kommenden Wochen würde sie viele Schreiben verfassen müssen, wofür ihr der Ständer hilfreiche Dienste leisten sollte. Nur in ein dünnes weißes Unterkleid gehüllt, erhob sie sich und ging zu dem Pult vor dem Fenster. Beim Schreiben arbeitet der gesamte Körper, hatte Äbtissin Hathui stets zu sagen gepflegt. Uta schloss die Augen und träumte sich in die Vergangenheit. Am besten schreibt Ihr im Stehen. So erhalten Eure Buchstaben geradlinigere Formen als in der eingeschränkten Sitzhaltung, hörte sie die Stimme der Äbtissin, die sie vor zehn Jahren in Gernrode warmherzig aufgenommen hatte. Uta war, als spüre sie wieder Hathuis Atem im Nacken, wie damals, als sich diese in der Schreibstube hinter sie gestellt hatte, um die Gradlinigkeit ihres Rückens zu überprüfen. Jetzt stellt Euch den Kiel und das Tintenfass zurecht. Ihr müsst stets ungehinderten Zugriff darauf haben! Lächelnd öffnete Uta die Augen und ergriff die Schreibutensilien, die sie am gestrigen Abend ebenfalls bereitgestellt hatte. »Von der Pflege der Gärten«, sagte sie gedankenverloren in Erinnerung an die erste Abschrift, die ihr in Gernrode übertragen worden war. Sie nässte den Kiel in der Tinte, straffte den Rücken und setzte an:
Schwesterliche Liebe und Gottes Beistand möge Dir, Hazecha, unser allmächtiger Gott gewähren.
Wie schön die Momente sind, in denen ich an dich denke. Bitte lass mich wissen, wie es dir geht. Ich habe so lange nichts von dir gelesen. Verbietet die Äbtissin dir jeglichen Kontakt nach draußen? Auch wenn du mir nicht schreiben kannst, möchte ich dich von mir wissen lassen. Das Leben auf der neuen Burg hat eine große Überraschung für mich bereitgehalten. Mein Schwager Hermann plant, eine Bischofskirche zu bauen.
Auf meiner Zeichnung kannst du sehen, wie formschön sich der geplante Bau auf den Burgberg einfügen würde. Die Zeichnung habe ich – mit einer zusätzlichen Beschriftung für dich – von der Skizze übertragen, die Markgraf Hermann einst auf dem Weg nach Rom in einer Bibliothek entwarf. Meine weniger guten Zeichenkünste mögen Gott und du mir gleichermaßen verzeihen. Meinst du nicht auch, dass die neue Bischofskirche genau zwischen die beiden vorhandenen Gotteshäuser passt? Als ob die Lücke zwischen ihnen geradezu darauf gewartet hätte, mit einem Gotteshaus gefüllt zu werden. Ich bin sehr gespannt, wie die Planung vorankommt. In meinem nächsten Schreiben kann ich dir sicherlich schon mehr berichten. Stell dir vor, dass mir die wichtige Aufgabe übertragen wurde, die Handwerker anzuwerben! Ich werde mein Bestes geben und viel lernen, dessen bin ich mir sicher.
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