Die Herrin der Kathedrale
Baustelle nicht mehr betreten durfte, beinahe jeden Tag damit zubrachte, neu eingetroffene Abschriften zu studieren, war sie auf der Suche nach Beweisen noch keinen Schritt weitergekommen.
»Baustelle?«, wiederholte Uta, trat vor das Fenster und schaute auf den Platz der Vorburg. Beim Anblick des Ostchores, dessen Mauern inzwischen bereits zwanzig Fuß hoch waren, meinte sie wieder die lederne Schlaufe ihrer Schürze am Hals, die hölzernen Pantoffeln an den Füßen und den feinen Steinstaub auf ihrem Gesicht zu spüren. Im nächsten Moment erkannte sie, dass Vitruvs Polyspastos bereits dabei half, Tröge und behauene Steine nach oben zu befördern. Sie lächelte, als sie das Hämmern der Steinmetze und Zimmerer hörte und die unzähligen Karrendienstler sah, die trotz der schweren körperlichen Arbeit zu jeder Tageszeit noch ein freundliches Lächeln auf den Lippen hatten. Inzwischen mussten es an die fünfhundert Arbeiter sein, die mit anpackten.
Mit einem tiefen Seufzer trat sie wieder vor die Bettstatt. »Es muss einen Weg geben, um Gerechtigkeit zu erlangen!« Sie beugte sich über Wipos Pergament und las weiter. »Als zweiter Ankläger ist Markgraf Heinrich von Spoleto zu nennen. Vorgenannter wird des Angriffs auf die Person des Kaisers und auf die Mitglieder seiner Familie angeklagt.« Uta schluckte. Ein Majestätsverbrechen! Gebannt folgte sie dem weiteren Bericht und spürte das Verlangen, auch diese Sätze für immer im Gedächtnis zu behalten. »Der Angeklagte befreite sich vom Vorwurf, Kaisertochter Beatrix entführt zu haben, per Reinigungseid«, murmelte Uta und fuhr mit den Fingern über die feinen Buchstaben Wipos, der es auf unnachahmliche Weise verstand, seinen Lettern eine beschwingte, ungewöhnlich runde, fast liebliche Form zu geben. Gleich heute Abend, so nahm sie sich vor, wollte sie dem Hofkaplan für die Abschrift danken, ihm warme Worte und einen Bericht über den Baustand der Kathedrale senden. »Als Ankläger tritt weiterhin Graf Hannes aus dem Hassegau mit zweiundvierzig Eideshelfern auf«, las sie weiter. »All jene Männer von ritterlichem Stand bezeugen die sittliche Verfehlung des Ehebruchs – eine geschlechtliche Vereinigung außerhalb der vor Gott getrauten Verbindung – der Oda von Wandersleben, dem Grafen seit nunmehr zehn Jahren angetraut.«
Eideshelfer sind Menschen, erinnerte sich Uta, die die Glaubwürdigkeit des Schwörenden durch ihren Eid unterstützen und damit Zeugen zu ersetzen vermögen, indem sie beteuern, dass sie die Aussagen der Beeidenden für wahr halten. »Als erstes Beweismittel wurde ein Geständnis der Angeklagten angestrebt, das diese jedoch verweigerte. Oda von Wandersleben wird zum Entzug ihrer Güter und zur Buße verurteilt und in ein Kloster nach des Gatten Wahl geschickt. Die Eheverpflichtung gilt damit als aufgehoben«, beendete Wipo seine Abschrift. Die Aussagen der Eideshelfer hatten mehr gewogen als das Wort der Gräfin, schlussfolgerte Uta und erhob sich. Obwohl Eideshelfer keine Zeugen waren, also den Hergang des Ehebruchs nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, war Gräfin Oda einzig aufgrund der zweiundvierzig Eide verurteilt worden.
»Wenn ich keinen Zeugen ausfindig machen kann, brauche ich Eideshelfer, die die Wahrheit meiner Worte bestätigen«, sagte sie zu sich selbst und war zuversichtlich, dass Aussagen von Eideshelfern auch bei Tötungsdelikten verwendet werden konnten.
»Alle waren von ritterlichem Stand«, wiederholte sie. Wer konnte das im Falle ihres Vaters sein und würde für sie, Uta von Ballenstedt, einen Eid leisten? Die Kaiserin vielleicht? Bei dem Gedanken an Gisela von Schwaben lächelte sie. Die Kaiserin hatte ihr stets vertraut und ihren Rat auch in Angelegenheiten erbeten, bei denen sie auf Utas absolute Verschwiegenheit angewiesen gewesen war. Würde die Kaiserin bereit sein, für ihre einstige Hofdame einen Eid zu leisten?
Als es klopfte, schaute Uta auf. Das zaghafte Pochen verriet ihr, dass es Katrina war, die Einlass begehrte. »Komm rein«, bat sie.
»Gräfin?« Das Kammermädchen war mit einer Verbeugung vor Uta getreten. »Der Burgherr ist im Burgsaal und lässt nach Euch schicken.«
»Ekkehard ist zurück?« Der Sommer war noch nicht vorüber und dennoch war der Gatte, der sonst nicht vor Ende des Herbstes von der Seite des Kaisers wich, bereits zurückgekehrt? »Nein, verzeiht«, schüttelte Katrina den Kopf, »ich meinte damit den Markgrafen.«
»Ich komme«, antwortete Uta und verstaute die Urkunde
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