Die Herrin der Kathedrale
CHOR
Esiko schien eins mit der Dunkelheit. Lediglich sein Gesicht und seine Hände wurden schwach von einer verborgenen Lichtquelle erhellt. Die Finger der rechten Hand fest um den Leib der hölzernen Gottesmutter geschlungen, strich er mit dem Zeigefinger der linken zärtlich über deren Hals. Als sie die Gottesmutter retten wollte und nach ihr griff, brachte Esiko sie schnell aus ihrer Reichweite. »Du hast es versprochen!«, zürnte er und hielt ihr die Statue anklagend entgegen. »Vor dem Angesicht der heiligen Mutter!«, sprach er und zog sich weiter in die Dunkelheit zurück, aus der er herausgetreten war. »Schau ihr in die Augen! Du bist eine Sünderin und viel zu erbärmlich, um das Gewand einer ewigen Braut zu tragen!«
Schweißgebadet fuhr Hazecha auf ihrem Lager hoch. Verstört blickte sie sich um, bis sie die drei Bettreihen im klösterlichen Schlafraum erkannte. Während ihr Herz noch immer heftig klopfte, glitt ihr Blick weiter zur Tür, die auf den Flur hinausführte. Die schien fest verschlossen. »Esiko?«, fragte sie vorsichtig in die nächtliche Stille hinein und hielt in Erwartung einer Antwort die Luft an. Als ihr lediglich der Wind mit einem Pfeifen antwortete, ließ sie den Blick über die nächststehenden Lager gleiten. Das Bett direkt zu ihren Füßen – Lisette hatte früher darin genächtigt – war leer, die Decke vorschriftsmäßig gefaltet und bereit, eine neue Sanctimoniale aufzunehmen. Auch Elfriedes einstiges Lager daneben würde bald einen anderen Körper beherbergen. Hazecha wagte nicht, sich nach den Betten der anderen Verstorbenen umzudrehen. Als Erstes war Köchin Hanna, die liebe Seele, gestorben. Ohne auch nur einen Tropfen Blut zu verlieren, war ihr eines Tages, sie hatte kurz zuvor noch über Übelkeit und Durchfall geklagt, einfach das linke Bein wie ein toter Stumpf vom Körper abgefallen.
Hazechas Angstgefühl wich der Schmach, weil sie Hanna nicht hatte heilen können. Gott zürnte ihr seit jenem Frühjahrstag vor einem Jahr, an dem Schwester Margit aus Naumburg die Krankenkammer besucht hatte. »Habt Mut, Schwester«, hatte die Benediktinerin mit vertrauter Stimme gesprochen. »Ich spüre, dass Gräfin Uta Euch genauso fehlt wie ihr Eurer Schwester!«
Noch am gleichen Abend, an dem Hazecha ein Schreiben an Uta begonnen hatte, war auch das Unglück ins Kloster eingezogen. Nach Hannas Tod am Folgetag hatte dann ein Neuzugang bei den Sanctimonialen, gerade einmal zehn Jahre alt, über Wochen hinweg immer wieder Wahnsinnsanfälle gehabt, bis ihm schließlich sämtliche Zehen und zwei Finger der rechten Hand abgestorben waren. Keine zehn Tage darauf hatte sein gesamter Körper den Dienst versagt. Seitdem hatten sie fünf Schwestern mit dieser Art von Symptomen unter die Erde gebracht – eine göttliche Warnung an sie, den Federkiel ruhen zu lassen und ihrem Versprechen an Esiko Folge zu leisten. Aber wenn dies nun Gottes Wille war, warum ließ der Allmächtige Uta dann weiter Zeilen voller Zuneigung an sie schreiben? Den Burgberg in Naumburg, die kleine Skizze aus einem der letzten Schreiben, vermochte Hazecha längst nachzuzeichnen. Überschwenglich hatte die Schwester ihr beschrieben, wie wunderbar sich der geplante Bau in die bestehende Anlage einfügte.
Hazecha spürte einen tiefen Schmerz in der Brust und verkroch sich unter ihrem Laken. Die Schwester durfte den Bau einer Bischofskirche unterstützen. Wenn die Mutter dies nur noch auf Erden hätte miterleben können. Sie schluchzte.
»Allmächtiger Herrgott! Mutter! Was soll ich nur tun?« Vor Verzweiflung presste sie die Lider zusammen, worauf ihr jedoch Bilder jener Verstorbenen erschienen, die außerhalb Gernrodes ebenfalls von der seltsamen Krankheit dahingerafft worden waren. Ein Reisender hatte ihr gar berichtet, dass in einem Dorf, durch das er gezogen war, alle fünfzig Bewohner nach dem Absterben und Verlust von Gliedmaßen gestorben waren.
Würde Gott weitere Menschen leiden lassen, weil sie, Hazecha von Ballenstedt, sündigte? »Ich darf mein Versprechen nicht brechen!«, entschied sie und wiederholte den Satz immer und immer wieder, während sie auf Lisettes Lager starrte. Sofern sie Kontakt zu Uta aufnahm, würde Gott seinen Zorn sicher noch auf weitere Dörfer richten und die Menschen mit dieser Krankheit bestrafen, gegen die nicht einmal Alwine Rat gewusst hatte. »Alwine!«, fiel es Hazecha ein. Im nächsten Moment läuteten die Glocken zum Morgengebet, worauf sie sich erhob, in ihr Tagesgewand
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