Die Herrin der Kathedrale
Querhaus und sogar die Pfeiler und Stützen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten, waren mit Hunderten von Kienspänen abgesteckt worden, die die Gesichter der Kämpfer in orangefarbenes Licht tauchten. Für die Pfeiler streckte jeweils eine Gruppe von drei Karrendienstlern, die erhöht auf einem Stein standen, lange hell auflodernde Späne empor. Das Licht für die Mauern der Kathedrale kam von den Steinmetzen, Maurern und Transportknechten, die mit weiteren Kienspänen so dicht nebeneinanderstanden, dass sie sich berühren konnten. Der Boden der Westkrypta, am anderen Ende des Gotteshauses, war mit einem leinenen, weißen Tuch bedeckt. Angezogen von dem ungewöhnlichen Lichtermeer und angeführt von ihren Heerführern, betraten die Kämpfer ihre Kathedrale. Nacheinander gingen sie in die Knie, als sie zur Linken des Altars das Kaiserpaar und Aribo von Mainz, den mächtigsten Kirchenfürsten des Reiches, stehen sahen. Den Blick ehrfürchtig zu Boden gesenkt, spürten sie den Wind so sanft auf ihrer Haut, dass sie meinten, er bringe ihnen die verlorene Wärme des längst vergangenen Sommers zurück.
Ihr erster Heerführer, Esiko von Ballenstedt, erhob sich und trat vor das Kaiserpaar, das den Thronfolger Heinrich mitgebracht hatte. Dann verneigte er sich und trat linker Hand neben die Kaiserfamilie.
Ekkehard von Naumburg, der zweite Heerführer des anstehenden Feldzuges, ging nach der Verbeugung vor der Kaiserfamilie auf die rechte Seite des Altars, wo seine Familie Aufstellung genommen hatte. Neben Uta und dem Bruder erkannte er weiterhin Meister Tassilo, Erzbischof Humfried von Magdeburg und Bischof Hildeward. Hinter diesen verfolgten die hiesigen Domherren, der Vogt, weitere Bischöfe der angrenzenden Bistümer sowie einige der treuesten Kampfgefährten die Messe. Seiner Gattin nickte er flüchtig zu und stellte sich zwischen sie und den Bruder.
Kaiserin Giselas Lächeln galt ihrer einstigen Hofdame, die im Glanz der Kienspan-Lichter schöner und kraftvoller zu leuchten schien als alle Frauen, die Gisela je gesehen hatte. Uta hingegen hatte nie einen lieblicheren und zugleich energischeren Gesang vernommen als den der Benediktinerinnen, die hinter dem Altar standen und deren virtuose Stimmen einen einzigen harmonischen Klangkörper bildeten. Uta fiel auf, dass Notburga von allen Sängerinnen die größte war und dass sie unverwandt in Richtung der Kaiserin schaute. Notburga musste den Benediktinerinnen während der vergangenen Tage nichts anderes erlaubt haben, als zu singen, so vollendet klang ihr Gesang. In tiefer Dankbarkeit nickte Uta Schwester Margit zu, die schräg hinter Notburga stand. Dann ließ sie ihren Blick über die ehrfürchtig knienden Kämpfer hinweg zum Altar gleiten. Bei dem Gedanken, dass jedoch Aribo von Mainz, der direkt neben dem Kaiser stand, die Kathedrale der Herzen mit seiner Kälte füllte, fröstelte sie. Unter allen Menschen, die ihr je begegnet waren, war er der einzige, den sie noch nie hatte lächeln sehen und der sogar in Gegenwart der Kaiserin nie etwas anderes als Herablassung gezeigt hatte. Als der Blick des Erzbischofs sie streifte, richtete Uta den ihren sofort auf die Kämpfer, die eine überirdische Ruhe ausstrahlten. Dabei entging ihr, dass die Augen eines weiteren Mannes auf ihr ruhten.
Esiko, die Hände entspannt vor dem Schoß verschränkt, musterte Uta mit ausdrucksloser Miene. Trotz ihrer dunklen Haare, dachte er, wird sie der Mutter immer ähnlicher und hat an Selbstsicherheit hinzugewonnen. Das hatte er an ihrem festen Blick und der aufrechten Haltung sofort zu erkennen vermocht. Wahrscheinlich wurde sie von Ekkehard noch nicht genug gezüchtigt! Niemals hätte er seinem Weib erlaubt, einer Chorweihe in der ersten Reihe beizuwohnen. Mathilde betete stets getrennt von ihm auf einer Empore oder in einer Seitenkapelle.
»Gläubige!«, rief da Erzbischof Humfried von Magdeburg, als der Gesang des Chores verklang, und Esiko richtete seinen Blick wieder nach vorn. »Der heilige Schleier hat Eurer Ankunft geharrt.« Nun traten auch Erzbischof Humfried und Bischof Hildeward vor den Altar, auf dem Letzterer ein schmuckloses Kästchen abstellte. In seiner leinenfarbenen Dalmatika mit dem kaum sichtbaren Kreuz wirkte er wie der Wächter der Reliquie, fand Uta. Oder lag es daran, dass er seine Hände eben noch wie ein Krake um das Kästchen herumgeschlungen hatte? Schon hielten die Kämpfer die Luft an, erhoben sich und versuchten, einen Blick auf das
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