Die Herrin der Kathedrale
wieder zu ihrem Schreibtisch zurückging.
»Zum Fest des heiligen Wendelin werden wir den Ostchor unserer neuen Kathedrale weihen«, fuhr Uta mit ruhiger Stimme fort. »Der Kaiser und ein Teil des Heeres werden erwartet, und es wäre schön, wenn der Chor des Moritzklosters die Messe gesanglich begleiten würde.« Bei diesen Worten erinnerte sich Uta, dass ihr die Rückkehr der zwölf Schwestern und Brüder aus Bautzen angekündigt worden war, welche die Singgemeinschaft vervollständigen würden.
»Chor?«, fragte Notburga überrascht, hatte sich aber gleich wieder gefangen.
»Sicherlich seid Ihr in der Gesangskunst ebenso bewandert wie Eure Vorgängerin Schwester Margit«, bemerkte Uta zuversichtlich.
Einen Wimpernschlag zögerte Notburga. Dann antwortete sie, ohne dass ihr Tonfall dabei an Überheblichkeit einbüßte:
»Sicher beherrsche ich diese Kunst! Und selbstverständlich wird mein Chor die Messe für den Kaiser begleiten.« Notburga schaute Uta eindringlich an, als ob sie etwas an ihr suchte.
»Sagt, Äbtissin«, unterbrach Uta die für sie beklemmende Stille, »wie ist es Euch und Eurer Schwester nach der Zeit in Gernrode ergangen?«
Notburga, die daran dachte, dass sie nun wahrlich nicht das Leben führte, von dem sie im Kloster geträumt hatte, schlängelte sich im Bestreben, sich etwas Zeit für die Erwiderung zu verschaffen und ihr erregtes Gemüt zu beruhigen, um ihren Tisch herum. »Bebette hat einen vornehmen Kaufmann mit einem großen Haus und Handelsbeziehungen bis nach Flandern geehelicht«, erklärte sie und unterdrückte den Impuls, sich in Gegenwart der stehenden Gräfin zu setzen.
»Das freut mich zu hören«, meinte Uta und schaute wohlwollend in das rot angelaufene Gesicht ihrer ehemaligen Mitschwester. »Das hatte sie sich ja immer gewünscht.«
»Nicht ganz!«, raunte Notburga kaum hörbar. Einen Grafen mit Burg hatte Bebette gewollt und keinen verarmten Kaufmann, den die Geschäfte mit Flandern das letzte Hemd kosteten.
»Und Ihr?« Uta trat vor den Tisch. »Ihr seid dem Kloster treu geblieben?«
»Der Herrgott hat mich dafür ausersehen«, entgegnete Notburga angestrengt. »Lange Zeit war ich zweite Äbtissin in Quedlinburg, an Äbtissin Adelheids Seite!«
Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge horchte Uta auf. Im Quedlinburger Felsenkeller hatte sie damals von Notburga keinerlei Dank für die ihr überlassenen Mitschriften erhalten, obwohl sie die Sanctimoniale vor einer großen Peinlichkeit bewahrt hatte. Ganz im Gegenteil! Aber das ist vergessen, mahnte sie sich. »Wenn Ihr irgendetwas benötigt oder ich Euch behilflich sein kann, lasst es mich wissen, Äbtissin Notburga. Ich freue mich, dass Ihr unsere Bischofsstadt mit Euren Fertigkeiten unterstützen wollt«, sagte Uta noch und verabschiedete sich.
Notburga nickte flüchtig.
Nachdem Uta die Tür ins Schloss gezogen hatte, hörte sie, wie Notburga mit der Faust krachend auf die Tischplatte schlug.
»Vom Herrn auserkoren?«, drang eine von Spott getränkte, bittere Stimme aus der Äbtissinnenkammer in den Gang, nachdem Uta diesen längst verlassen hatte.
Der Tag des heiligen Wendelin war wolkenlos und kühl. Es dämmerte bereits, als siebenhundert Kämpfer, angeführt von ihren Heerführern Esiko von Ballenstedt und Ekkehard von Naumburg, in die Burg einzogen. Die Zugbrücke der Vorburg ächzte, als Dutzende von Fuß- und Hufpaaren gleichzeitig über sie hinweggingen. Ein mit hellen Kieselsteinen und Sand aufgeschütteter Weg, an dem die Bewohner des Burgbergs Spalier standen, wies den Weg von der Zugbrücke zum neuen Gotteshaus. Eine gespannte Stille empfing die Kämpfer in der Vorburg, in der am Vormittag noch emsig Gewänder geputzt und letzte Vorbereitungen getroffen worden waren.
Mit den ersten Schritten in Richtung Ostchor setzten die Stimmen des Chores ein und verwöhnten die Ohren der Kämpfer, die zuletzt kaum etwas anderes als Waffengeklirr zu hören bekommen hatten. Einige verharrten einen Moment, um den Klängen zu lauschen, und setzten sich erst wieder in Bewegung, als sie als deren Quelle ihre Kathedrale ausgemacht hatten. Ob alter, erfahrener Kämpfer oder junger Knappe, sie marschierten mit schweren Schritten und wettergegerbten, müden Gesichtern. An der Baustelle des neuen Gotteshauses angekommen, schauten sie auf. Auch wenn bisher nur die Mauern des Ostchores weit über den Erdboden ragten, glaubten sie zu erahnen, wie ihre Kathedrale einst aussehen würde: Die Außenmauern für Lang- und
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