Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
unentschlossen, ob er weitersprechen oder schweigen sollte.
Marocia fuhr ihrem Jüngsten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung über die blonden Haare. Es fiel ihr nicht leicht. Ihr war klar, dass sie den Mörder ihres Enkels und den Hauptschuldigen an Landos Tod liebkoste, mit Gesten und mit Worten, aber sie folgte in diesem Augenblick nur ihrem Gefühl. Es war nicht die Stunde der Politik, der Meinungen, Visionen, Kriege und Vergeltungen. Sie wollte nicht streiten und nicht richten, sondern eine letzte, eine allerletzte Pflicht erfüllen: Crescentius, ihr Kind, zu beschützen.
»Im Vorbeigehen?«, wiederholte sie seine Kritik. »Mein lieber Junge, was du so leichthin Vorbeigehen nennst, ist mein Abschied.«
Crescentius formte das Wort tonlos auf seinen Lippen nach, dann schüttelte er den Kopf, als wolle er sich von einer Benommenheit befreien. »Ihr veranstaltet diesen sentimentalen Gefühlszauber doch bloß, um mich wieder auf Eure Seite zu ziehen, um . . .«
»Nein, Crescentius. Nein, diesmal nicht.«
»Ihr könnt mich nicht lieben. Ich habe Octavian getötet!«, schrie er. »Den Sohn Eures geliebten Alberic.«
Sie schloss die Augen und nickte. »Ich weiß.«
»Du hast etwas vor!«, rief er verbissen und verzerrte sein Gesicht in einer Mischung aus Schmerz, Zorn und Trauer. Noch nie hatte Marocia, hatte irgendjemand Tränen auf seinen Wangen gesehen – bis zu diesem Augenblick. »Es muss einfach so sein: Du hast irgendetwas vor. Sag doch!«
»Ich habe nur eines vor!«, rief sie und hielt sein Gesicht mit ihren Händen fest. »Siehst du diese Sarkophage, aufgereiht, einer neben dem anderen? Das sind Leon, Theophyl, Theodora, Alda, Alberic, Blanca, Octavian, Alazais und Eudoxia. Und siehst du diesen freien Platz hier, wo ich jetzt stehe? Das, Crescentius, ist mein Platz, und ich will ihn nicht dir überlassen müssen. Hörst du? Ich will nicht, dass du vor mir an die Reihe kommst.
Du
nicht
.«
Ihre letzten Worte hatte Marocia aus sich herausgepresst, mit der ganzen Kraft und Angst, die in ihr steckte, der schrecklichen, bohrenden Angst um das letzte Kind, das ihr geblieben war. Nun sank sie erschöpft zu Füßen der Grabmäler nieder.
Crescentius ließ seinen verwirrten Blick über die Sarkophage schweifen, dann ließ auch er sich nieder, und nach einer Weile legte er seinen Arm um die Schultern Marocias und hielt sie fest. »Mutter«, sagte er, und dieses Wort hatte plötzlich einen ganz anderen Klang, für ihn wie auch für sie. »Du sollst nicht die Letzte sein«, versprach er. »Aber eines Tages, wenn du deinen Platz eingenommen hast, werde ich so groß werden, wie du es warst.«
»Groß? Ich?«, murmelte Marocia und schüttelte leicht den Kopf, aber danach schwieg sie.
Eine Stunde saßen sie noch stumm beieinander, und Marocia gab sich der Überlegung hin, dass mit ihrem Tod, irgendwann, womöglich auch der Behauptungswille ihres jüngsten Sohnes erlöschen würde, sein Trotz gegen die Deutschen, der ein Trotz gegen sie war. Vielleicht hatte er ja doch eine grandiose Zukunft vor sich. Sie wollte daran glauben.
Mit jedem Jahr, das verging, wurde es stiller um Marocia. Die Welt erschien ihr wie ein Strom, in dessen Mitte sie auf einer Insel saß und alles vorüberziehen sah, selbst aber unbeteiligt blieb. Es gab immer weniger vertraute Menschen, die sie in Fontana Liri besuchen kamen. Einige ihrer Enkelkinder starben früh, andere verheirateten sich in weit entfernte Länder, und schließlich blieben ihr nur noch die Briefe Theophanus.
Die Kaiserin bildete die letzte Verbindung zu dieser anderen Welt fernab von der Ruhe des Klosters. Sie berichtete ihr von allen wissenswerten Ereignissen, so zum Beispiel von den Feldzügen ihres Gemahls, Kaiser Ottos II., seinen Siegen, seinen Niederlagen. Das Kaiserpaar hatte einen kleinen Sohn, der auch Otto getauft wurde, und Marocia hörte mit großer Freude, dass er von nichts anderem redete, als einmal nach Rom zu kommen. Die Liebe zu der Ewigen Stadt vererbte sich offenbar weiter und immer weiter.
Im Dezember des Jahres 983 – Marocia war beinahe vierundneunzig Jahre alt – teilte Theophanu ihr brieflich den Tod Ottos II. mit; er war während eines Aufenthaltes in Rom am Fieber verstorben. Theophanu übernahm somit die Regentschaft für den erst dreijährigen Kaiser Otto III., und wenige Monate später stattete sie ihrer Großmutter einen Besuch ab.
»
Imperatrix Sanctum Romanorum
«, hauchte Marocia stolz, als sie mit Theophanu zu ihrer Linken und
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