Die Herrin der Päpste - Walz, E: Herrin der Päpste
ihrem Urenkel Otto zur Rechten auf einer Bank im Kreuzgang saß. Sie hatte sich zu diesem Anlass noch einmal in große Robe geworfen, den dezenten, aber kostbaren Schmuck hervorgeholt und sich die Haare von einer Klosterschwester flechten lassen. Das samtrote Kleid leuchtete auf ihrer dunklen Haut, doch es vermochte sie nicht mehr zu verjüngen. Dem vierjährigen Kaiser musste sie wie eine biblische Urgestalt erscheinen, und tatsächlich blickte er sie ständig mit einer Mischung aus Neugier, Verwunderung und Respekt an.
Theophanu nickte.
»Protokollarisch kommt nur noch Gott über mir«, sagte sie und legte eine Spur Sarkasmus in ihre Stimme. Zufrieden stellte Marocia fest, dass Titel und Macht der jungen Imperatrix nicht zu Kopfe gestiegen waren. Sie wusste, diese Frau, die würdevoll und mit festem Blick neben ihr saß, würde stets mit beiden Beinen auf dem Boden der Realitäten bleiben, kühl denken und entschlossen handeln. Und wie jung sie war. Marocia überkam eine tiefe Sehnsucht danach, noch einmal so jung zu sein, solche Möglichkeiten zu haben . . .
»Vor Euch liegt so unendlich vieles und Schönes, Majestät. Ich bin sicher, Ihr werdet mit voller Kelle daraus schöpfen, so wie ich es getan habe, als ich in Eurem Alter war.«
»Meine Mutter hat mir vor langer Zeit von Euren Wünschen und Zielen erzählt«, berichtete Theophanu. »Ich war noch ein Kind, aber ich glaube, kein Wort davon vergessen zu haben. Euren Sohn Clemens wolltet Ihr zum Pontifex machen, nicht wahr? Ihr wolltet Rom eine großartige Zukunft geben und die Krone eines neuen Reiches tragen.«
Marocia wiegte den Kopf hin und her. »So manches von dem, was ich in meinem Leben getan habe, ist mir im Nachhinein als Kindheitstraum angedichtet worden, anderes ist mir sogar eher aufgezwungen worden. Aber es stimmt: Ich habe meine Jugendträume alle erfüllt.«
»Mit einer Ausnahme«, korrigierte Theophanu und fing sich einen fragenden Blick ihrer Großmutter ein. »Ihr wolltet die Krone eines neuen Reiches tragen, aber nur die Krone Italiens war Euch vergönnt.«
»Und Niederburgunds«, fügte Marocia hinzu. »Aber Ihr habt Recht: Ein Reich war dieses Flickwerk abhängiger Länder sicherlich nicht. Man kann nun mal nicht alles haben.«
Theophanu lächelte spitzbübisch und gab ihrem Sohn ein Zeichen. Da griff der Kleine in einen mitgebrachten Beutel und zog die Reichskrone heraus. Sie war kunstvoll geschmiedet und besetzt mit wunderbaren Steinen, die wie Lichter hinter vereisten Fenstern leuchteten. Otto III. reichte sie mit einem ernsten, ehrfurchtsvollen Blick seiner erstaunten Urgroßmutter.
»Zum Probieren«, sagte er.
»Ich soll . . .«
»Aber ja«, ermutigte Theophanu sie. »Ihr habt Euren Anteil daran, dass diese Krone überhaupt entstanden ist. Es ist nur gerecht, wenn Ihr sie für einen Augenblick ganz für Euch habt.«
Da Marocia weiterhin zögerte, nahm Theophanu die Krone und setzte sie Marocia auf das mit einem goldfarbenen Schleier bekleidete Haupt. »Auf diese Weise«, sagte die Kaiserin und lächelte Marocia zu, »geht nach achtzig Jahren auch Euer letzter Mädchentraum in Erfüllung. Ich hoffe, ich kann einmal dasselbe von mir sagen.«
Marocia ergriff die Hand ihrer Enkelin und die ihres Urenkels.
»Verdient habt Ihr es«, sagte sie gerührt und genoss den Augenblick mit den letzten Menschen und Dingen, die sie umgaben.
Nachdem die beiden sich verabschiedet hatten, blieb Marocia auf der Bank sitzen. Der Tag war grau, die Sonne leuchtete weiß und verschwommen durch den Dunst. Ein kräftiger Herbstwind blies das welke Laub über die Mauern des Klosters in den Kreuzgang hinein. Langsam fiel es zu Boden, fiel auf ihre Schultern, in ihren Schoß. Sie stützte ihr Kinn auf die zitternden Fingerspitzen und sah in die kalte Luft des Himmels. Träume, dachte sie, und spürte eine große Müdigkeit in sich wachsen. Im Grunde waren Träume doch für nichts anderes gemacht, als die Zeit zu füllen, diese Frist zwischen dem Dunkel, aus dem wir gekommen sind, und dem Dunkel, in das wir eintauchen. Sie knospen, wachsen und reifen, bevor sie wie alles wieder welken und schließlich eingehen in den ewigen Kreislauf. Aber ohne sie hätten wir nicht wirklich gelebt.
Sie schloss die Augen, lächelte und weinte.
Marocia starb noch in derselben Nacht, am 19. Oktober des Jahres 984. Sie wurde neben ihren Eltern, Geschwistern und Kindern in der Krypta von
Sanctus Sebastianus
in Rom bestattet.
Nachwort
Kaiserin Theophanu übte die
Weitere Kostenlose Bücher