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Die Herrin der Pyramiden

Die Herrin der Pyramiden

Titel: Die Herrin der Pyramiden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Khan.
    Soll ich mich dieses Mal seinem Befehl beugen? Soll ich tun, um was er mich mit seinem letzten Atemzug gebeten hatte?
    Ich starre hinauf in den Abendhimmel, aber zwischen den feurigen Wolken gibt mir der Himmelsgott kein Zeichen. Kein Donner, der mich ermahnt, die richtige Entscheidung zu treffen, kein Blitz, der mich erschlägt, wenn ich es nicht tue. Aber wann hatte ich mich zuletzt dem Willen Gottes gebeugt?
    Ich zerreiße die Landkarte, das mongolische Reich und den Willen des Khakhan in kleine Stücke, die der Wind über die Steppe weht. Mein Blick folgt den Fetzen bis zum Horizont.
    Meine Gedanken folgen ihnen. In eine andere Welt. In eine andere Zeit. Nein, ich bin noch nicht zurückgekehrt aus dem Land jenseits des Horizontes. Ich bin getrennt von meiner eigenen Vergangenheit. Ich muss ganz von vorne anfangen.
     
     
    Ich und der Vater sind eins
    (Jesus)
     
     
    Was der Mensch nicht begreift, macht ihm Angst. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Ich hätte meinen Freund Jesutai bitten sollen, mich zu begleiten. Und doch ging ich weiter. Denn stärker als die Angst ist die Neugier eines Fünfjährigen. Ich tastete mich vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, als ob ich Honigwaben aus einem Bienenstock stehlen wollte, ohne die Bienen aufzuscheuchen. Wie ich vor angriffslustigen Bienen gegen den Wind flüchten konnte, wusste ich. Aber was tat ich angesichts eines zornigen Schamanen, der über mächtige Geister gebot?
    Kökschu hatte in diesem Jahr seine sechste Schamanenweihe gefeiert. Trotz seiner hoch geschätzten Fähigkeiten als Heiler und Seher, trotz seines Ansehens galt er als verrückter Sonderling, der seine Jurte am Rand des Lagers errichtete.
    Kökschu hatte keine Hunde, die sein Zelt bewachten. Kein Bellen und kein wütendes Knurren kündigte ihm meinen Besuch an. Ich hob vorsichtig den Türfilz hoch und trat in die Jurte. Wenn ich erwartet hatte, von mindestens einem Geist erschreckt zu werden, wurde ich enttäuscht. Im Inneren war es so finster wie in einer sternenklaren Schwarzmondnacht. Und heiß. Die Hitze nahm mir den Atem. Oder war es meine Angst? Kökschu hatte das Himmelstuch über den Dachkranz gezogen. Das Herdfeuer war nur noch ein Haufen glühender Asche, der Rauch von Wiesenkräutern und Birkenholzstückchen stieg wie silberner Morgennebel zum verhängten Dachkranz der Jurte hinauf.
    In dieser Dunkelheit konnte ich die Geister fast
sehen
.
    Kökschu saß auf einer Filzdecke am Feuer. Er trug das Vogelgewand eines Schamanen mit bunten Seidenbändern, Adlerfedern und geflochtenem Pferdehaar. Sein Gesicht wurde von den dichten schwarzen Fransen seiner Kopfbedeckung verdeckt. Neben ihm lag die Schamanentrommel.
    Ich ging zwei Schritte auf ihn zu, aber er sah nicht auf. »Kökschu?«
    Der Schamane reagierte nicht. Seine eisblauen Augen waren hinter den schwarzen Fransen geschlossen. Sein Mund war leicht geöffnet. War er eingeschlafen? Ich betrachtete die umgekippte Trinkschale neben ihm. War er betrunken?
    Ich kniete mich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu wecken. Nichts. Die Fransen vor seinem Gesicht bewegten sich nicht im Hauch des Atmens. Lebte er noch?
    In diesem Augenblick begann Kökschu seinen Körper zu einer unhörbaren Musik vor und zurück zu wiegen. Die Stille im Zelt war beinahe überirdisch, bis Laute aus seinem Mund tropften, die keiner menschlichen Sprache angehörten, und ein grauenhaftes Stöhnen, als erleide Kökschu einen furchtbaren Schmerz.
    Ich überlegte, ob ich verschwinden sollte. Kökschu würde wütend sein, wenn ich seine stille Unterredung mit dem Himmelsgott störte. Und ich wusste, was geschehen konnte, wenn ein Schamane, der über Blitz und Donner, Hagel und Sturm gebot, zornig war. Das war ungefähr so, als wenn der Himmelsgott Tenger selbst erzürnt war. Nur gefährlicher!
    Ich würde nicht vor ihm fliehen. Ich hatte mich entschieden. Ich würde ihm die Frage stellen. Sobald er erwacht war.
    Mit zitternden Knien nahm ich ihm gegenüber Platz und sah mich ehrfürchtig in der düsteren Jurte um, die ich noch nie zuvor betreten hatte. Das Zelt hatte fünf statt der üblichen vier Scherengitter. Die Dachstangen waren wohl ursprünglich blau lackiert gewesen, waren aber durch den Rauch des Herdfeuers und der darin verbrannten Kräuter gedunkelt. Der Filz hatte eine rauchgraue Schattierung angenommen, die an dunkle Gewitterwolken am fernen Horizont erinnerte. Von den Dachstangen hingen allerlei Gegenstände herab: der

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