Die Herrin des Labyrints
meinen Haaren und drehte sie zwischen den Fingern. Die, die den Tanz anführt? Hieß sie Amanda? Ich konnte es nicht glauben. Amanda war zwar ein sehr alter Name lateinischen Ursprungs und bedeutete schlicht »die Liebenswürdige«, aber den Reigen der Liebenswürdigkeit hatte ich noch nie angeführt. Und außer der weißen Haarsträhne hatte keinerlei Ähnlichkeit zwischen mir und den beiden Frauen bestanden.
Vor allem, was hatte der Tanz mit dem Labyrinth zu tun? Ein Labyrinth war für mich ein Gebäude, vielleicht auch eine Gartenanlage aus Hecken. Oder ein Mosaikmuster in Kirchen, wie Patrick herausgefunden hatte. In Kirchen aber tanzte man nun mal nicht.
Die Puzzlesteine waren jetzt alle irgendwie da, das spürte ich. Aber ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich sie anzuordnen hatte.
Die ersten Vögel begannen ihren morgendlichen Gesang, und ich zog mir noch einmal energisch die Decke über die Ohren, da mir die Lösung alleine sowieso nicht einfallen würde.
KAPITEL 48
Die Höhle der Löwinnen
Natürlich erzählte ich Henry und Patrick am nächsten Tag von meinem Traum, aber beide konnten sich genauso wenig einen Reim darauf machen.
»Ich bin mir auch nicht sicher, dass dir eine wissenschaftliche Recherche über Labyrinthe viel weiterhelfen wird, du hast mit der Vermutung wahrscheinlich völlig recht, dass die Lösung sehr viel einfacher ist«, meinte Henry, als Patrick wieder mit seinen Konstruktionsanleitungen für Labyrinthe der unterschiedlichsten Schwierigkeitsstufen zu argumentieren begann. »Ich glaube nicht, dass sich hinter der Konstruktion das Geheimnis verbirgt, sondern hinter der symbolischen Bedeutung.«
»Na, dann sollten wir mal die Expertin Halima konsultieren«, schlug ich vor, und damit verschoben wir das Thema auf den Donnerstag. Henry fuhr mit mir in die Stadt, wollte aber noch etwas erledigen und versprach, zum Ende des Kurses im Studio vorbeizuschauen.
»Ein kleiner Tipp nur, Henry! Verirr dich nicht in die Umkleide,sondern bleib in dem abgetrennten Raum nebenan. Von dort kannst du uns zusehen.«
»Das hört sich gefährlich an, Amanda. Besteht die Gefahr, dass ihr gewalttätig werdet?«
»Wenn ja, werde ich sehen, ob ich dich beschützen kann.« Man begrüßte mich mit freundlichem Hallo und akzeptierte die Entschuldigung von Arbeitsüberlastung und Unfall. Über zwei Monate war ich nicht in den Stunden gewesen, aber als ich die Musik hörte, die zu uns herüberklang, war mir plötzlich ganz klar, was ich vermisst hatte. Die Anfängerinnen, die gerade ihren Kurs beendet hatten, kamen in die Umkleide, und unter ihnen eine Hochschwangere, die zur Belustigung aller Bauchwellen ganz eigener Art produzierte.
»Frühkindliche Tanzerziehung nennt man das«, ulkte Doro. »Wir werden nach alter Sitte bei der Geburt um dich herumtanzen und dich anfeuern. Ich bin sicher, Halima steht gleich mit dem Studiovertrag neben dir, damit sie sich den Nachwuchs sichern kann.«
»Es wird aber ein Junge.«
»Na und? Es gibt eh zu wenige Tänzer. Und der hier scheint ja schon eine gewisse Begabung zu zeigen.«
Ich lauschte dem fröhlichen Geplänkel und sah mich um, ob auch Nicole in dieser Gruppe war, aber vermutlich kam sie nur montags. Sie hatte sich auch schon lange nicht mehr bei mir gemeldet, und wahrscheinlich war das auch ganz gut so, denn ich würde im Augenblick mehr Themen umgehen müssen, als mir lieb war.
Die Übungsstunde verlief wunderbar, ich hatte trotz der langen Pause nichts verlernt, ich meinte sogar, mein Gefühl für den ziemlich schwierigen Rhythmus der orientalischen Musik war sogar noch etwas besser geworden.
Es war kurz vor Ende der Stunde, als der Ruf ertönte: »Ein Mann! Ein Mann!«
Zwölf Frauen drehten sich – wie ein Mann – um und leckten sich buchstäblich die Lippen.
»Grrrooaarrr!«, raunte Doro und schlich mit wiegenden Hüftennäher. Elsie schnurrte und legte ein blutrünstiges Ozelot-Lächeln in ihr sanftes Gesicht, Afrita löste ihre Haare und hob sie mit wollüstiger Gebärde im Nacken hoch, Margit machte zu ihrem kreisenden Becken verträumte Schlafzimmeraugen – die ganze Gruppe übte sich plötzlich in allen Feinheiten des erotischen Ausdruckstanzes.
Henry hatte wohl so etwas erwartet und stand gelassen in dem Vorraum zwischen Diwanen und Polstern, holte umständlich seine Brille aus der Jackentasche, putzte sie und setzte sie auf, um die neueste Lieferung zirkassischer Sklavinnen kritisch zu mustern. Wenn man seinen gelangweilten
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